Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der transparente Mann (German Edition)

Der transparente Mann (German Edition)

Titel: Der transparente Mann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sixt , Barbara Wilde
Vom Netzwerk:
sehen. Es wird alles gut. Außerdem hab ich die Webpage gelöscht. Es gibt sie nicht mehr. In ein paar Tagen wird niemand mehr darüber sprechen.«
    »Ach, Kind.« Nach diesem Seufzer schwieg ihre Mutter wieder. Sie ließ den Kopf sinken und erschien wie gefangen in einer Welt, in der Joe sie nicht erreichen konnte.
    Kreidebleich im Gesicht nippte Joe an ihrem Kaffee, der immer noch bitter schmeckte, obwohl sie inzwischen Unmengen braunen Zuckers in ihm verrührt hatte. Auf einmal überkam sie die ungute Vorahnung, dass etwas ganz anderes, etwas Ungeheuerliches und Bedrohliches zwischen ihren Eltern vorgefallen war. Obwohl Joe diese spontane Eingebung total abwegig erschien, gab es für sie nur eine Erklärung für das seltsame Verhalten ihrer Eltern: So deprimiert wie ihre Mutter heute war, deutete alles darauf hin, dass ihr Vater sie betrog. Vielleicht hatte ihn jemand auf der Webpage geoutet?
    Dieser Gedanke erschreckte Joe so sehr, dass sie am liebsten aufgesprungen und davongelaufen wäre. Nein, sie wollte die Wahrheit gar nicht wissen! Allein die Vermutung, ihr Vater könnte fremdgehen, fühlte sich schrecklich an. Joe fröstelte plötzlich, obwohl die Küche wie immer gut geheizt war, und wagte kaum, ihre Mutter anzublicken, als diese endlich wieder das Wort an sie richtete:
    »Du hast alles zerstört, was mir wichtig war. Du hast mir mein ganzes Glück genommen. Nichts wird jemals wieder so sein, wie es war.«
    Diese Worte trafen Joe mitten ins Herz. Sie spürte die unendliche Leere, die von ihrer Mutter Besitz ergriffen hatte; sie fühlte sich schuldig, aber gleichzeitig hasste sie auch ihren Vater für das, was er seiner Frau angetan hatte.
    »Mami, das muss doch alles gar nicht stimmen. Es wird viel geredet …«, erwiderte Joe verzweifelt. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie zwar daran, dass ihre Mutter wahrlich nicht sehr glücklich mit ihrem Vater gewesen war. Doch sie wagte nicht, die Ehe ihrer Eltern zu beurteilen. Es war ihr einfach unerträglich, ihre Mutter so leiden zu sehen.
    »Wieso geredet?«, wunderte sich Hilda Benk. »Es steht doch schwarz auf weiß auf deiner Webpage im Internet. Als du gestern Abend nicht gekommen bist, haben dein Vater und ich uns deine Seite angeschaut, einfach nur um mal mit eigenen Augen zu sehen, was du da angestellt hast. Und da haben wir es gelesen.«
    Joe hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Bei der Vorstellung, dass sich ihr Vater auf der Webpage in der Gesellschaft von Ehebrechern, Swingern und Bordellbesuchern wiedergefunden hatte, wurde ihr übel. Außerdem wollte Joe das nicht glauben, auch wenn sie sich oft genug über ihn aufgeregt hatte. Aber das – das durfte einfach nicht sein!
    Hastig sprach sie von Denunzianten und übler Nachrede, denn sie wollte ihre Mutter unbedingt davon überzeugen, dass nicht alles, was auf ihrer Internet-Seite stand, der Wahrheit entsprach. Je länger Joe redete, desto mehr ereiferte sie sich. Sie erfand sogar tausend verteidigende Argumente für ihren Vater, bis ihre Mutter ihrem Wortschwall Einhalt gebot.
    »Kind, du verstehst nicht. Es geht hier nicht um deinen Vater. Es geht um mich. Ich habe ein Verhältnis. Nicht dein Vater.«
    »Mama, nein, das glaube ich nicht!«, entfuhr es Joe spontan.
    Zum ersten Mal an diesem Morgen lächelte Hilda Benk. Sie verstand, dass Joe in ihr nur die Mutter sah und nicht die Frau, die sich wie alle Frauen nach Liebe, Nähe und Erotik sehnte, die sie so lange schon nicht mehr von ihrem Mann bekam. »Es ist aber so. Seit vier Jahren«, erklärte Hilda. »Und du kennst ihn. Es ist Ludwig. Er arbeitet bei uns.«
    »Aber nicht Ludwig Huber, unser Obermonteur!« Die Überraschung machte der Empörung Platz, die in Joes letztem Wort deutlich mitschwang.
    Hilda nickte.
    Joe hatte sehr wohl das Leuchten in den Augen ihrer Mutter bemerkt, als sie Hubers Namen ausgesprochen hatte. Für Joe war es unvorstellbar, dass ihre Mutter ein Verhältnis mit einem ihrer Monteure hatte. Wie konnte sie nur? Sie war schließlich verheiratet und zudem die Frau des Chefs! Sie hatte ihren Vater der Lächerlichkeit preisgegeben. Kein Wunder, dass er wie ein gebrochener Mann am Frühstückstisch gesessen hatte! Als die Entrüstung langsam nachließ, wurde ihr aber auch klar, dass sie allein die Schuld an der Entdeckung dieses lange gehüteten Geheimnisses trug. Am liebsten wäre Joe in Tränen ausgebrochen, und sie verfluchte den Tag, an dem sie die Webpage ins Netz gestellt

Weitere Kostenlose Bücher