Der transparente Mann (German Edition)
den richtigen Worten, doch bevor sie etwas vorbringen konnte, hob er den Kopf und blickte sie aus leeren Augen an. »Lass mich. Geh auf die Baustelle!«
Plötzlich konnte sich Joe nicht mehr darüber freuen, dass er doch nicht vorhatte, sie von der Baustelle abzuziehen. Das war in diesem Moment nicht mehr wichtig.
»Paps, es tut mir leid. Mama hat es mir erzählt«, begann sie. Da war auf einmal dieses Gefühl von Nähe und Verständnis, das sie ihm gegenüber lange nicht mehr empfunden hatte.
»Ich habe gesagt, du sollst auf die Baustelle gehen. Bring die Männer auf Trab! Du hast uns diesen Schlamassel eingebrockt, jetzt sieh zu, dass wir nicht auch noch Pleite gehen.«
Unschlüssig blieb Joe stehen. Sie begriff, dass er nicht reden wollte, denn er hatte nie gelernt, über Gefühle zu sprechen. Er konnte einen Kummer nur allein mit sich ausmachen. Deshalb ging sie zur Tür, aber bevor sie das Büro verließ, hörte sie ihn noch sagen:
»Die Sache zwischen deiner Mutter und mir geht dich nichts an. Halt dich da raus.«
Beklommen setzte Joe sich ins Auto und schlug den Weg zur Baustelle ein. Sie fuhr so geistesabwesend, dass sie Mühe hatte, sich auf den Stop-and-go-Verkehr zu konzentrieren, der ihr in diesen Morgenstunden noch chaotischer erschien als an anderen Tagen. Ihre Gedanken kreisten um ihre Eltern, und sie fühlte sich so hilflos und schuldig wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie wusste, dass sie nichts mehr wiedergutmachen konnte, denn das Geheimnis ihrer Mutter war ein für alle Mal gelüftet.
Nichts würde jemals wieder so sein, wie es gewesen war. Selbst das oft so nervende sonntägliche Mittagessen mit Schweinebraten und Knödeln würde es sicher nicht mehr geben. Die Affäre mit Huber erschien Joe völlig absurd, und sie schämte sich für ihre Mutter. Sie wollte sich einfach nicht vorstellen, dass ihre Mutter Ludwig Huber wirklich liebte. Und der Gedanke, dass die beiden Sex zusammen gehabt hatten, bedrückte sie so, dass sie ihn augenblicklich verdrängte. Den einzigen Aspekt, den sie zulassen konnte, war der, dass Huber das Leben ihrer Mutter durch die heimlichen Treffen bereichert und belebt hatte. Damit konnte sie umgehen. Diesen Gedanken konnte sie als Tochter ertragen.
Das Hupen der Autos hinter ihr riss Joe aus ihren Überlegungen. Sie gab wieder Gas und nahm sich vor, wenigstens auf ihrer Baustelle wieder für Normalität zu sorgen. Nach dem gestrigen Streich ihrer Männer war Joe jedoch auf das Allerschlimmste gefasst. Wie würden ihre Leute sie empfangen? Würden sie lachen, würden sie mit dem Finger auf sie zeigen? Waren sie überhaupt zur Arbeit erschienen? Wenn nicht, dann würde die Firma Probleme haben, die hohen Verzugsstrafen zu bezahlen. Auf jeden Fall wäre der gute Ruf der Firma Benk ruiniert, und das wollte Joe mit aller Kraft verhindern. Mit diesem Gedanken bog sie auf das Baustellengelände ein und stieg aus dem Auto.
Wie ein Wachhäuschen schien das blaue Dixi-Klo jetzt vor dem Bau postiert worden zu sein. Es stand genau an der Stelle, wo am Vortag Konstantins Wagen Opfer des Anschlags geworden war.
Joe blickte sich suchend um. Weit und breit konnte sie keinen ihrer Monteure entdecken, obwohl die Autos der Firma Benk ordentlich aufgereiht neben dem Gebäude auf ihren üblichen Plätzen standen. Für Joe war das jedoch kein gutes Zeichen. Denn auch in dem Fall, dass ihre Männer tatsächlich weiterhin streikten, hätten sie die Wagen nicht auf dem Firmenhof, sondern auf der Baustelle abgestellt, um eine Konfrontation mit ihrem strengen Chef zu vermeiden, vor dem alle einen Heidenrespekt hatten.
Die Wirkung von Alfs Kava-Kava-Pillen schien nachzulassen, denn Joe spürte ihre Nervosität ziemlich deutlich, als sie nun zum Baubüro ging und die Tür öffnete.
»Da sind Sie ja endlich!«, entfuhr es Wagenscheidt schroff, der zornig hin- und hertigerte.
Wagenscheidt wusste also Bescheid, und ihre Männer waren nicht zur Arbeit erschienen!, fuhr es ihr durch den Kopf. Enttäuscht stellte sie ihre Aktentasche ab, ließ sich auf dem nächsten Stuhl nieder und kämpfte gegen die aufsteigende Mutlosigkeit, die sie vor Franz Wagenscheidt verbergen wollte.
»Bin ich denn hier im Affenstall. 7 Diese Saubande! Wir sind doch kein Heim für Obdachlose.«
Während er polterte, stellte er Joe mit solch einer Heftigkeit eine Tasse Kaffee hin, dass ein Teil des schwarzen Gebräus auf das vergilbte Plastikfurnier des Tisches schwappte.
Von welchen Obdachlosen spricht er?, fragte sich
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