Der Traum des Kelten
begaben sich in die Fischerdörfer, Schulen und mittlerweile eingerichteten Krankenstationen. Roger übersetzte Schweriners Artikel für The Irish Independent . Die Gespräche mit dem deutschen Journalisten, der die nationalistischen Ideen befürwortete, bestärkten Rogers Auffassung, dass Irland sich im Kampf um die Unabhängigkeit mit Deutschlandverbünden müsste, sollte es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen dem Kaiserreich und Großbritannien kommen. Mit diesem mächtigen Verbündeten würden die Aussichten weitaus besser sein, England abzuringen, was Irland mit seinen dürftigen Mitteln – ein David gegen einen Goliath – allein niemals erlangen würde. Unter den Volunteers fand die Idee Anklang. Sie war nicht ganz neu, aber der unmittelbar bevorstehende Krieg verlieh ihr frische Überzeugungskraft.
Zu diesem Zeitpunkt wurde bekannt, dass es den Ulster Volunteers gelungen war, über den Hafen von Larne zweihundertsechzehn Tonnen Waffen nach Ulster einzuschmuggeln. Rechnete man diese zu dem bereits vorhandenen Arsenal, waren die unionistischen Milizen wesentlich besser ausgerüstet als die nationalistischen Volunteers . Roger musste dringend in die Vereinigten Staaten aufbrechen.
Zuvor begleitete er allerdings Eoin MacNeill nach London zu einem Treffen mit John Redmond. Trotz aller Rückschläge war Redmond weiterhin davon überzeugt, dass das Inkrafttreten der Autonomie-Regelung nur noch eine Frage der Zeit sei. Bei ihrer Unterredung sagte Redmond, er glaube an den guten Willen der liberalen britischen Regierung. Redmonds dynamische Art zu sprechen glich trotz seiner Dickleibigkeit einer Maschinengewehrsalve. Seine unbeirrbare Selbstsicherheit machte ihn Roger überaus unsympathisch. Warum war dieser Mensch in Irland so beliebt? Seine These, die Autonomie müsse in freundschaftlicher Zusammenarbeit mit den Engländern verwirklicht werden, fand den Zuspruch der meisten Iren. Doch sehr schnell würde dieses allgemeine Vertrauen in die Anführer der Irish Parliamentary Party verfliegen, daran hatte Roger keinen Zweifel, würde die Öffentlichkeit erst einmal erkennen, dass die englische Regierung die Home Rule -Regelung den Iren nur vorgaukelte, um sie ruhig zu halten und untereinander zu spalten.
Was Roger bei jener Unterredung am meisten irritierte, war Redmonds Satz, im Falle eines Krieges mit Deutschlandmüssten die Iren an Englands Seite kämpfen, aus prinzipiellen wie auch strategischen Gründen: Auf diese Weise würden die Iren das Vertrauen der englischen Regierung und Öffentlichkeit gewinnen, was wiederum die Bedingung für eine künftige Autonomie würde. Außerdem verlangte Redmond die Aufnahme von fünfundzwanzig Vertretern seiner Partei ins Zentralkomitee der Volunteers , worauf die Volunteers schließlich eingingen, um den Zusammenhalt der beiden Gruppierungen nicht zu gefährden. Doch selbst dieses Zugeständnis brachte Redmond nicht dazu, seine Meinung über Roger Casement zu ändern, den er immer wieder beschuldigte, ein »radikaler Revolutionär« zu sein. Dessen ungeachtet schrieb Roger in seinen letzten Wochen in Irland zwei freundliche Briefe an Redmond, in denen er ihn inständig bat, stets im Sinne einer irischen Einheit zu handeln. Roger versicherte ihm, dass er im Falle des Inkrafttretens der Home Rule -Regelung ihr erster Verfechter wäre. Sollte jedoch die englische Regierung wegen ihrer zaghaften Haltung gegenüber den Extremisten in Ulster die Autonomie nicht durchsetzen können, müssten die Nationalisten über eine Alternativstrategie verfügen.
Am 28. Juni 1914 befand Roger sich als Redner auf einer Versammlung der Volunteers in Cushendun, als die Nachricht eintraf, ein serbischer Terrorist habe in Sarajewo den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand erschossen. Zunächst maß niemand diesem Vorfall große Bedeutung bei, der wenige Wochen später zum Ausbruch des Weltkriegs führen sollte. Seine letzte Rede auf irischem Boden hielt Roger am 30. Juni in Carn, heiser vom vielen Sprechen.
Sieben Tage später ging er im Hafen von Glasgow heimlich an Bord der Cassandra – Nomen est omen –, die Kurs auf Montreal nahm. Er reiste unter falschem Namen in der zweiten Klasse und hatte auch sein äußeres Erscheinungsbild verändert: Statt seiner sonst so tadellosen Garderobe trug er einfache Kleidung, seine Haare waren anders geschnitten und er hatte sich den Bart abrasiert. Die Tage der Überfahrt waren seine erste Ruhepause seit langem.
Weitere Kostenlose Bücher