Der Traum des Kelten
Anlegestelle zu den Büros und Wohnquartieren von La Chorrera zu gelangen, musste man eine schlammige, von Dickicht überwucherte steile Böschung erklimmen. Die Stiefel der Reisenden versanken im Morast, und sie mussten sich zuweilen auf die indianischen Träger stützen, um nicht hinzufallen. Während sie die Männer begrüßten, die ihnen entgegenkamen, stellte Roger leicht schaudernd fest, dass jeder dritte oder vierte der halbnackten Eingeborenen, die ihr Gepäck trugen oder sie vom Ufer aus neugierig betrachteten und dabei mit offenen Handflächen die Moskitos fortwedelten, auf Rücken, Hinterteilen und Schenkeln Narben aufwies, die nur von Peitschenhieben stammen konnten. Der Kongo, o ja, überall der Kongo!
Juan Tizón war ein großer, überaus höflicher Mann um die fünfzig, ganz in Weiß gekleidet und mit aristokratischen Manieren, der gut genug Englisch sprach, um sich mit ihnen verständigen zu können. Sein glatt rasiertes Gesicht, sein gestutzter Schnurrbart, seine gepflegten Hände und seine Kleidung verrieten sofort, dass er hier, mitten im Dschungel, nicht in seinem Element war, sich für gewöhnlich in städtischen Büros und Salons bewegte. Er hieß sie willkommen und stellte ihnen seinen Begleiter vor, dessen Name allein in Roger Abscheu hervorrief: Víctor Macedo, Verwalter von La Chorrera. Der zumindest hatte nicht das Weite gesucht! Die Artikel von Saldaña Roca und die von Hardenburg hatten ihn als einen der blutrünstigsten Statthalter Aranas in Putumuayo ausgewiesen.
Roger musterte ihn, während sie die Böschung hinaufkletterten. Macedo war ein nicht besonders großer, kräftigerMann undefinierbaren Alters mit der hellen Haut eines Mestizen, aber den etwas orientalischen Zügen und der platten Nase der Eingeborenen. Zwischen seinen breiten, stets leicht geöffneten Lippen funkelten zwei oder drei Goldzähne, sein Gesichtsausdruck war hart, wettergegerbt. Anders als die Neuankömmlinge stieg er den steilen Abhang ohne Mühe hinauf. Er sah sein Gegenüber nie direkt an, als fürchte er den Augenkontakt oder weiche dem gleißenden Sonnenlicht aus. Tizón war nicht bewaffnet, doch in Víctor Macedos Gürtel steckte ein Revolver.
Auf der weitläufigen Lichtung standen mehrere Holzhäuser auf Pfählen – dicke Baumstämme oder Zementsäulen –, die größeren mit Balkonen im Obergeschoss und Zinkdächern, die kleineren waren mit Palmblattdächern gedeckt. Tizón deutete erklärend um sich: »Dort sind die Büros«, »Hier sind die Kautschuklager«, »In diesem Haus beziehen Sie Unterkunft«, doch Roger hörte ihm kaum zu. Er beobachtete die Gruppen halb oder ganz nackter Eingeborener, die ihnen gleichgültige Blicke zuwarfen oder es vermieden, in ihre Richtung zu schauen. Ausgemergelte Männer, Frauen und Kinder mit dünnen Beinen und gelblich blasser Haut. Manche hatten bemalte Wangen und Brüste, andere Einschnitte und Ringe in Lippen und Ohren, die Roger an die afrikanischen Eingeborenen erinnerten. Doch hier gab es keine Schwarzen. Die vier Mulatten und Dunkelhäutigen, die er zu Gesicht bekam, trugen Hosen und Stiefel und gehörten vermutlich dem Kontingent aus Barbados an. Die Jungs erkannte er sofort, barfüßige Indios, die ihre Haare nach »Christenart« geschnitten hatten, mit Hosen und Hemden bekleidet waren und Knüppel und Peitschen am Gürtel trugen.
Während die übrigen Kommissionsmitglieder sich jeweils zu zweit ein Zimmer teilen mussten, hatte Roger das Privileg eines Einzelzimmers. Es war ein kleiner Raum mit einer Hängematte statt eines Bettes und einer Kleidertruhe, die gleichzeitig als Schreibtisch diente. Auf einem schmalen Tischchen standen eine Waschschüssel, ein Krug und ein Spiegel. Manerklärte ihm, unten neben dem Eingang gebe es eine Latrine und eine Dusche. Roger stellte rasch seine Sachen ab und informierte Juan Tizón, ehe sie sich zum Mittagessen setzten, er wolle noch am selben Nachmittag damit beginnen, alle aus Barbados stammenden Arbeiter in La Chorrera zu befragen.
Inzwischen machte ihm der ranzige Geruch zu schaffen, wie von fauligen Pflanzen, der La Chorrera bis in den letzten Winkel durchdrang und ihn während seines dreimonatigen Aufenthalts in Putumayo unablässig begleiten sollte, ohne dass er sich je daran gewöhnte. Ein Übelkeit erregender Gestank, der in der Luft zu hängen, von der Erde, den Dingen und den Menschen auszugehen schien und der für Roger zum Symbol für die Bosheit und das Leid wurde, die hier herrschten. »Sonderbar«,
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