Der Traum des Satyrs
Niemand hatte je auch nur daran gedacht, diese uralte Tradition in Frage zu stellen.
Er schaute die Frau an, die vor ihm stand, und sah die Erinnerungen an jene Vollmondnacht in ihren Augen schimmern.
Mit ihren leuchtenden Schwestern und seinen Verwandten waren beinahe zwei Dutzend Wesen anlässlich des letzten Vollmondes zusammengekommen. Mit wilder Lust hatten sie den vollen Mond gefeiert, dessen Aufgang den Höhepunkt des zunehmenden Mondes signalisierte. Das Blut seiner Ahnen hatte heiß und heftig in seinen Adern pulsiert. Reichlich Wein war geflossen – und reichlich Samen.
Die Begegnungen waren hart und ohne jedes Schuldgefühl gewesen. Er hatte sie und andere ihrer Art in allen denkbaren Stellungen genommen, und sie alle hatten sich mit Hingabe der Befriedigung seiner Leidenschaft gewidmet.
Es war eine Orgie von epischen Ausmaßen gewesen, eine ganze Nacht auf der Jagd von einem Orgasmus zum nächsten. Mit anderen Worten: eine typische Vollmondnacht in der Klamm.
»Können auch andere Nebelnymphen … fühlen?«, wollte Vincent wissen, während ihm langsam dämmerte, was das für die Männer seiner Art bedeuten konnte. Wenn alle Nebelnymphen in der Lage waren, Empfindungsvermögen zu entwickeln, konnte man sie keinesfalls mehr guten Gewissens so nutzen, wie seine Familie es seit Jahrhunderten tat. Unter solchen Umständen wäre es nichts anderes als abscheulich, so weiterzumachen wie bisher. Ein Verbrechen.
Die Frau schüttelte langsam den Kopf und legte ihre flache Hand mit Nachdruck auf ihr Dekolleté. »Nur.«
Bei ihrem Geständnis überflutete ihn Erleichterung. Seine männlichen Verwandten hatten ja keine Ahnung, wie knapp sie gerade noch einmal davongekommen waren! Zwar standen noch immer Fragen offen, aber …
Sein Blick fiel auf ihre Hand, die zwischen ihren nackten Brüsten lag, und seine Augen wurden glasig. Volle, perfekt geformte Brüste, gekrönt mit rosigen spitzen Knospen. Unter dem Morgenmantel begann sein Geschlecht zu zucken.
Sofort ballte sie beide Hände zu Fäusten. »Kein Sex.«
»Was? Nun sag das doch nicht andauernd! Ich habe nicht die Absicht, über dich herzufallen.«
Sie wirkte immer noch skeptisch.
Er seufzte. Sie hatte wohl allen Grund, ihm zu misstrauen. Von ihrem Standpunkt aus musste es so aussehen, dass er sie bei ihren letzten Zusammenkünften ohne ihr Einverständnis sexuell benutzt hatte. Wahrscheinlich sollte er sich glücklich schätzen, dass sie sich nur an die letzten drei Male erinnern konnte. Aber wieso, zum Teufel, musste eines davon ausgerechnet eine Vollmondnacht gewesen sein?
Er schloss die Augen und rieb sich mit der Hand über die Stirn, um das plötzlich entstandene Spannungsgefühl dort zu vertreiben, während er gleichzeitig versuchte, sich noch mehr Einzelheiten der letzten gemeinsamen Vollmondnacht ins Gedächtnis zu rufen. Er war trunken vor Wein und Begierde gewesen.
Wenn Landon dabei gewesen war, hatten sie sie wahrscheinlich miteinander geteilt und sie gemeinsam am Sockel einer der Statuen genommen, die rund um die Klamm plaziert waren. So hatte es sich vor einem Jahr abgespielt, in der Nacht, da er sie zum ersten Mal beschwor. In der Nacht, als Landon auf Fronturlaub von dem Krieg in der Anderwelt gewesen war.
Eine Nacht, an die sie sich nicht erinnern konnte.
Plötzlich wollte er es unbedingt wissen: »Habe ich, wir, hat
irgendjemand
dich während dieser Nacht vor zwei Wochen verletzt? Oder danach?«
Ihr Gesicht spiegelte eine Vielzahl von Gefühlen wider – Verwirrung und Vorsicht konnte er erkennen. Dann versteifte sie sich und sah an ihm vorbei. »Ich gehe.«
Als er keine Anstalten machte, sich von der Tür zu entfernen, warf sie einen Blick in Richtung Fenster.
»Wie ich schon sagte, das würde ich nicht empfehlen. Wir sind im
piano superiore.
Du verstehst? Im Obergeschoss?«
Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie begriffen hatte oder nicht, sondern verschränkte nur ihre Arme. Damit allerdings stellte sie ungewollt ihre Brüste zur Schau, die schwer auf ihren Unterarmen lagen wie reife köstliche Früchte auf einer Obstschale und das Blut in Vincents Schwanz hungrig pochen ließen.
»Du solltest dir etwas anziehen. Dann habe ich vielleicht nicht ständig mit einer Erektion zu kämpfen.«
»Anziehen?« Ihre Miene hellte sich augenblicklich auf.
Er lächelte, auf absurde Weise froh, sie erfreut zu haben. »Du möchtest gern etwas anziehen?«
Sie nickte.
Er fand einen Stift und kritzelte schnell eine kurze Notiz an
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