Der Traum des Schattens
die andere Flussseite zu fahren.
Sobald sie im Wald waren, hob Elira den Kopf und atmete wieder freier. Mit halb geschlossenen Augen berührte sie Blätter und Baumstämme; sie schien zu träumen. Hanna und Mattim mussten nicht lange darauf warten, dass man sie bemerkte. Die Wölfe erschienen und verschwanden wieder, und wenig später stand der alte König höchstpersönlich vor ihnen.
Es war Hanna durchaus bewusst, dass sich keiner der rebellischen Schatten zeigte– sie trauten ihr nicht. In den dunklen Wäldern Magyrias war ihre Position an Kununs Seite nichts wert. Sogar der alte König ignorierte sie und schenkte seine volle Aufmerksamkeit seiner Frau.
» Elira! Was ist los mit dir? Elira, ich bin es. Sieh mich an!«
Doch die Königin betrachtete versonnen eine weiße Blüte, die sie von einer Schlingpflanze pflückte. » Die Schmetterlinge kommen«, sagte sie. » Man muss nur lange genug warten.«
Hilfesuchend wandte Farank sich an Mattim. » Was ist mit ihr? Was ist passiert?«
» Sie träumt«, versuchte er seinem Vater zu erklären. » Es ist, als wäre sie in einem ewigen Traum gefangen. Ich habe gehofft, ihr könntet euch gegenseitig heilen. Sie gibt dir einen Teil ihrer Seele, wodurch du wieder ein Mensch wirst und sie mit dem Licht gesund machen kannst.«
Farank schüttelte sorgenvoll den Kopf. » Deine Mutter ist nicht in dem Zustand, mir irgendetwas zu geben.«
Die beiden sahen sich lange an, hielten stumme Zwiesprache.
» Dann ist diese Hoffnung also dahin«, sagte Mattim schließlich.
Auch Farank war erschüttert, allerdings bemühte er sich sehr, es nicht zu zeigen, als er sich an Hanna wandte und ihr die Hand auf die Schulter legte.
» Danke. Mir ist bewusst, dass du viel riskiert hast, doch Elira kann nicht hierbleiben. Wir befinden uns im Krieg. Ihr müsst sie wieder in die andere Welt bringen.«
» Das geht nicht«, widersprach Mattim. » Drüben ist sie völlig außer sich, dort geht es ihr wesentlich schlechter als hier. Sie muss in Magyria bleiben – aber natürlich nicht in Akink. Nirgends, wo Kunun sie finden und wieder zu sich holen kann.«
Vermutlich war es keine so gute Idee gewesen, die verwirrte Frau mitzunehmen. » Wahrscheinlich hat Kunun sie zu ihrer eigenen Sicherheit eingesperrt«, vermutete Hanna.
Mattims graue Augen ruhten auf ihr, doch sie konnte seinen Blick nicht deuten. » Wenn du das wirklich glaubst, warum hast du sie dann entführt?«
Mitten in ihr Zögern setzte der alte König zu reden an.
» Kunun hat ihr das angetan. Er lässt Elira glauben, dass sie in einem Traum lebt. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie noch völlig gesund. Sie hat mich erkannt, und wir haben Pläne geschmiedet… Kunun war es, das weißt du ganz genau, Hanna.«
Woher kam nur dieses Bedürfnis, Kunun zu verteidigen? » Sie ist seine Feindin. Er hat das Recht dazu, sie außer Gefecht zu setzen, damit sie nicht gegen ihn arbeitet.« So war es, und trotzdem…
Die beiden Männer warteten ab. Worauf, auf ihre Entscheidung? Oder darauf, dass sie endlich verschwand und sie in Ruhe darüber diskutieren konnten, wo sie Elira verstecken wollten?
» Es gibt einen Ort, an dem sie in Sicherheit wäre«, sagte sie. » In Magyria. Ich gebe zu, ich weiß nicht viel von dieser Welt, ich kenne nur Akink… und Jaschbiniad.«
Das Glas zerbrach klirrend an der Wand. Kunun, der immer heitere, amüsierte, gelassene Kunun, zeigte selten das ganze Ausmaß seiner Gefühle, umso erschreckender kam Hanna dieser Wutausbruch vor. Offenbar war er Mattim ähnlicher, als sie gedacht hatte.
» Wie können sie nur!«, schrie er. » Wie können sie es wagen!«
Es war stockfinster in dem Königszimmer, sie konnte sich nur auf ihr Gehör verlassen. Etwas schepperte, dann krachte etwas Großes, Schweres auf den Boden. Der Spiegel? Die Splitter hüpften über die Steinfliesen, ein Kaleidoskop kleiner Lärmfunken.
» Was ist passiert?«, fragte sie vorsichtig, die Scherben knirschten unter ihren Schuhsohlen. Sie tastete nach ihm, bis sie seine Schultern berühren und sich gegen ihn lehnen konnte. » Kunun? Erzähl es mir.«
Seine Stimme klang samtig und schwarz. » Küss mich.«
Ihre Hände lagen auf seinen zerfurchten Wangen, ihre Lippen trafen auf seine.
Es war, als würde sie von der Dunkelheit trinken, als würden die Schatten um sie her dichter und dichter.
Er ist bloß der König seines eigenen Elends … Sie versuchte Mattims Worte zu verdrängen, während sie sich dem Kuss hingab, sich
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