Der Traum des Schattens
ersten Moment dachte Mattim, sie meinte ihn, dann sah er Kununs Bild auf dem Schreibtisch liegen, die Farbe glänzte noch feucht. Es war der Kunun von dem Porträt in der Galerie, jung und erwartungsvoll, so hübsch, wie er nie wieder sein würde. Mattim schnappte sich das Blatt und hoffte, dass die Alte sich beruhigen würde, doch das Gegenteil trat ein.
» Wer bist du?«, keuchte sie, wobei sie mit ihren faltigen Händen seinen Arm umklammerte. » So schön! So schön wie er! Wer bist du, Prinz? Ein Vampir? Licht oder Schatten?«
Bevor er zurückweichen konnte, zerrte sie ihn näher zu sich heran und legte ihr Ohr an seine Brust. » Dein Herz schlägt«, wisperte sie. » Seines dagegen hat nicht geschlagen. Ein Mann ohne Herz. Ich habe an die Liebe geglaubt, doch er hatte kein Herz, und seine Seele war finster wie die Nacht. So irrt er bis heute durch die Stadt, ein Schatten, eine dunkle Wolke, leer und tödlich…« Sie starrte Mattim an. » So schön, so schön wie du. Unvergesslich.« Sie streckte die Hand aus und tätschelte seine Wange.
» Woher wissen Sie das alles?«, fragte er. » Woher … Wie können Sie das wissen? Sie haben Kunun gekannt? Ihn geliebt?«
Es war kaum möglich, sich die Frau jung vorzustellen, als ein Mädchen mit schwarzem Haar und dunklen Augen, als eine junge Frau voller Leidenschaft und Hoffnung. Sie erinnerte sich, das war das Erstaunlichste. Hatte Mattim am Ende Kununs Lichtprinzessin gefunden? War sie die attraktive Ungarin, von der Atschorek erzählt hatte, die den Schattenprinzen so sehr verzaubert hatte, dass er ihr alle seine Geheimnisse verriet?
» Oma, nicht«, redete Mária auf ihre Großmutter ein. » Setz dich wieder hin, beruhige dich, bitte.«
» Ich soll mich beruhigen?« Magdolna richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, und auch wenn sie nicht mehr hübsch war, so war dennoch zu erahnen, wie sie einmal gewesen war– temperamentvoll, aufbrausend, Hals über Kopf verliebt in einen Fremden, der ihr das Herz raubte und das Blut und vielleicht sogar einen Teil ihrer Seele. » Wie das?« Sie schlug mit ihrer kleinen, harten Faust gegen Mattims Brust. » Ist er immer noch so schön? Immer noch so stolz? Ich bin grau und alt! Uralt!«
Plötzlich brach sie zusammen, weinend sank sie gegen ihre Enkelin. Mattim griff schnell nach ihrem Arm, und gemeinsam halfen sie ihr auf die Couch. Magdolna weinte, in kurzen, abgehackten Schluchzern.
» Verschwinde endlich!«, zischte Mária. » Raus hier!«
» Nein«, sagte Mattim. » Nein, ich kann nicht. Du bist es! Du könntest es sein! Du, Mária!« War es zu glauben? Sie war das Lichtkind, das er die ganze Zeit gesucht hatte– und lebte direkt vor seiner Nase! Ausgerechnet Mária, der es so leichtfiel, an Vampire zu glauben, die alle Schatten abgrundtief hasste.
» Mach, dass er endlich geht«, rief sie Réka zu. » Sonst rufe ich die Polizei.«
Zögernd trat das Mädchen über die Schwelle und starrte die alte Frau an, als wäre sie ein Geist. » Ich kann das nicht glauben«, flüsterte sie.
» Raus hier, oder ich schreie!« Mária geriet vollends in Wut.
» Das würde ich an deiner Stelle lieber nicht tun. Wenn die Schatten herkommen, bist du tot«, sagte Mattim. » Wir müssen uns überlegen, was wir unternehmen, und zwar schnell.«
» Können wir sie nicht gleich durch die nächste Pforte bringen?«, fragte Réka. » Müsste es dadurch nicht schlagartig hell werden in Magyria?«
» Ich weiß nicht, was dann geschieht«, meinte Mattim. Er verfluchte sich für sein Zögern. Was geschah mit den Schatten, wenn das Licht zurückkehrte? Würden alle sterben, die zu lange kein Blut getrunken hatten? Oder würde die Zeit ausreichen, dass sie sich in diese Welt flüchten und in Sicherheit bringen konnten?
Hanna, dachte er.
» Oder werden sie geheilt, wenn Mária bereit ist, sie zu umarmen?«, fragte Réka hoffnungsvoll.
» Ich werde niemanden umarmen!«, schrie Mária. » Und könnt ihr bitte endlich aufhören, über mich zu reden, als wäre ich nicht da. So, und jetzt raus hier!« Sie versuchte, ihre Besucher in den Flur zu schubsen. Das Geschrei musste im ganzen Haus zu hören sein. » Raus!«
Mit einem Aufschluchzen sank Magdolna in sich zusammen. Sofort war Mattim an ihrer Seite. » Sie müssen wach bleiben! Sprechen Sie mit mir! Was ist mit Márias Eltern, gibt es noch mehr Kinder des Lichts? Vielleicht können wir eine ganze Familie nach Magyria bringen? Sie alle wären meine Verwandten!«
Réka teilte seine
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