Der Traum des Schattens
Wächter schleppten Réka fort. Hanna zwang sich dazu, ihr nicht nachzusehen, ihr kein tröstendes Wort zuzurufen. Sie wandte sich Kunun zu.
Immer schön lächeln. Sieh ihm tief in die Augen. Du kannst das, du bist ein Schatten. Dein Atem wird nicht stocken, deine Tanzschritte gehen nicht daneben, deine Hände werden weder zittern noch schwitzen. Du hältst ihn in deinen Armen, und er hat keine Ahnung, woran du denkst.
Magdolna. Mária, das Messer im Rücken. Er würde einen Teenager hinrichten, der ihm getrotzt hat! Ohne mit der Wimper zu zucken. Wer ist dieser Mann, von dem du geglaubt hast, er wäre gut?
» So könnte ich ewig mit dir tanzen«, sagte Kunun. » In die Nacht hinein, ins endlose Dunkel, wie in einem Strudel, der uns in die Tiefe zieht, und wir drehen uns um die Mitte, in der das Nichts haust.«
» Ja«, flüsterte sie, aber sie dachte: Was sind das für Fantasien? Wovon spricht er? Geht es denn immer nur hinab, wenn ich mit ihm zusammen bin? Wie damals im Kerker, tief unter der Burg, oder im Fahrstuhl. Auch da sind wir nach unten gefahren, in die Finsternis.
Der Fahrstuhl, der Code: eins, fünf, null, zwei. In ihrem Kopf hörte sie ihre eigene Stimme, auch wenn sie nicht mehr wusste, zu wem sie gesprochen hatte: Was, wenn er ein besonderes Datum gewählt hat für den Code? Seinen Geburtstag? Den Jahrestag seiner Ankunft in dieser Welt?
1502. Das war keine Jahreszahl. Es war der 15. Februar, Attilas Geburtstag.
An diesem Tag war Kunun der alten Frau begegnet, seiner ehemaligen Lichtprinzessin, die ihn erkannte und verfluchte, die ihm mit einem kleinen Bruder drohte, der ihn vernichten würde. Magdolna wusste nichts von Mattim. Aber sie war die Putzfrau der Szigethys, und an jenem Tag hatte Mónika einen Sohn geboren.
Der kleine Bruder war nicht Kununs, sondern Rékas Bruder: Attila.
Kunun drehte sie herum, und der Rocksaum schwang um ihre Beine. Sie wandte den Blick nicht von ihm ab, von seinem grausam zerstörten Gesicht, während sie weiter nachdachte.
Attila. Nur warum? Wieso hatte Magdolna geglaubt, ein neugeborenes Baby könnte Kunun schaden?
Etwas in Hanna machte klick.
Magdolna hatte etwas gewusst, das sonst niemand wusste. Kunun hatte sie eingeweiht in die Geheimnisse Magyrias, sie wusste also nicht nur über die Familie des Lichts Bescheid, sondern auch welche Kraft ein Lichtkind haben würde, in dem das Blut eines Menschen ihrer Welt floss. Ein Mischling. Attila war Mónikas Kind– und wessen noch? Nein, er war nicht der Sohn von Ferenc, das hätte ihn nie zu einer Bedrohung gemacht. Er war auch nicht Kununs Kind, denn der hatte bereits eine Lichtprinzessin. Blieben nur noch zwei Kandidaten übrig: Bela und Wilder.
Es gab nur einen Wolf, der in der anderen Welt nicht wahnsinnig wurde, weil ihn die Liebe zu seiner Lichtprinzessin davor bewahrte. Es gab nur einen Wolf, der durch das moderne Budapest zielsicher zur Villa der Szigethys schlich. Nicht, weil Réka dort wohnte. Dieser Wolf liebte Réka, das war immer schon auffällig gewesen, doch er hatte noch einen anderen Grund, dorthin zu fliehen. Dorthin, wo eine junge Frau die Haustür öffnete und erschrak, weil sie einen roten Wolf im Garten sah…
Wilder.
Wie blind waren sie gewesen! Attila war das Lichtkind. Attila war die Rettung Magyrias, Kununs schlimmster Feind, Attila war der Schlüssel.
Attila… Er hatte sie geheilt! Die Schrammen an ihrer Stirn und an ihren Armen waren verschwunden, nachdem sie ihn nachts an seinem Bett besucht hatte. Nicht die Finsternis heilte die Schatten, wie hatte sie das jemals glauben können? Das Licht heilte die Wunden, die die Finsternis aufgerissen hatte. Immer nur das Licht.
Ihre Schritte gerieten ins Stocken, Kunun fing sie behutsam auf.
» Fall nicht hin, meine Liebe. Ist etwas nicht in Ordnung?«
Sie klammerte sich an seinen Arm, sah ihn an und dachte: Ich liebe ihn, oder? Sie forschte in ihrem Inneren nach ihren Gefühlen und fand nichts.
Warum habe ich je geglaubt, dass ich ihn liebe? Weil er mich gerettet hat? Weil mich so vieles an ihm anzieht? Weil er mich mit dieser samtigen Stimme um den kleinen Finger wickeln kann?
» Mir ist ein bisschen schwindelig.«
Jetzt lag es an ihr. Ein einziges Wort, mit nur einem Wort konnte sie Attilas Schicksal besiegeln oder seins.
» Worüber denkst du nach?«
Willst du das wirklich wissen? Über Verrat denke ich nach. Darüber, wer ich bin und wozu du mich gemacht hast. Darüber, dass ich keine Angst habe.
Nicht davor hatte sie Angst,
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