Der Traum des Schattens
hatte, war schneller. Er steckte sein eigenes Schwert griffbereit zwischen die Bohlen, setzte dem Fürsten nach und erwischte ihn gerade noch am Knöchel. Schon waren sie in einen waffenlosen Kampf verwickelt. Einige lange Sekunden rangen sie miteinander, dann gelang es Mattim, den Griff anzubringen, den er von Bartók gelernt hatte. Er hielt Mirontschek am Arm fest, machte eine Drehung, schleuderte den anderen über seinen Rücken und ließ los, während er gegen das Geländer prallte. Danach konnte er sich nur noch an die Seile klammern und nach Atem ringen.
Mirontschek schrie gellend auf, als er fiel, und war gleich darauf in den Wolken verschwunden.
Mattim wischte sich den Schweiß von der Stirn, hob die beiden Schwerter auf und wartete. Hatte er sich getäuscht? Hatte er umsonst darauf geachtet, seinen Kontrahenten nicht zu verletzen?
Müde kehrte er zum Felsentor zurück, wo ihn die Menge erwartete. Alles war still, während er zwischen den Leuten hindurchging, die die Straße säumten. Dann hörte er hinter sich ein Rauschen, und ein Raunen aus unzähligen Kehlen ertönte. Mattim drehte sich um, die beiden Schwerter abwehrend von sich gestreckt. Über ihm flatterte ein dunkles Geschöpf mit ledrigen Flügeln. Es war nicht, was er erwartet hatte, kein Adler. Die alten Legenden hatten das Wichtigste verschwiegen: Es war eine Fledermaus.
31
BUDAPEST, UNGARN
Das ganze Mietshaus wimmelte von Schatten. Was sonst kein Grund zur Freude gewesen wäre, machte Hanna schwindlig vor Erleichterung, denn es bedeutete, dass sie Attila noch nicht gefunden hatten.
Die Wächter nickten ihr ehrerbietig zu und ließen sie durch. Die Wohnungstür der Szigethys stand offen, und drinnen spielte sich ein kleines Drama ab. Réka war da und stritt sich mit Kunun. Er hatte gerade die Hand gehoben, um sie zu schlagen, ließ sie jedoch sofort sinken, als er Hanna bemerkte.
» Dieses kleine Biest tut so, als wüsste es von nichts.«
» Ich hab an allen Plätzen nachgesehen, die mir eingefallen sind«, sagte Hanna. » Nichts.«
» Gibt es wirklich niemanden, der etwas weiß? Beim Licht, was ist das für eine Familie, in der keiner eine Ahnung davon hat, was der andere tut? Wo ist Attila? Ruf deinen Bruder an.«
» Das habe ich längst versucht!«, beteuerte Réka. » Er hat sein Handy nicht mit, es liegt in seinem Zimmer.«
» Dann deinen Vater.«
» Der geht nicht ran.«
» Wenn du uns nicht hilfst, werde ich ihn verwandeln lassen, sobald wir ihn haben. Willst du das, Réka? Willst du, dass dein Vater ein Schatten wird?«
» Nein«, wimmerte sie. » Ich probiere es gleich noch mal.«
Sie ließ sich aufs Sofa sinken, während sie die Tasten drückte, und drehte Kunun und seinem stechenden Blick den Rücken zu. Auf einen Wink von ihm setzte Hanna sich zu dem Mädchen, nah genug, um mitzuhören.
» Papa? Papa, wo bist du?«
» Hat deine Mutter dir aufgetragen, mich das zu fragen?«
» Mama ist gar nicht da«, sagte Réka. » Wo bist du? Soll ich zu dir kommen? Ich möchte auch bei euch sein.«
» Bleib, wo du bist, Réka, und misch dich nicht ein. Ich mache jetzt Schluss.«
Réka wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. » Dabei bin ich sein Kind«, flüsterte sie. » Sein einziges Kind. Es ist alles so verdammt ungerecht!«
» Was sagt er?«, wollte Kunun wissen.
» Nichts.« Hanna gelang es, unzufrieden zu klingen. » Er hat sie abserviert.«
» Was hast du mit Attila vor?«, fragte Réka mit zitternder Stimme.
» Das geht dich nichts an«, sagte er kalt.
» Kunun, bitte! Er ist mein Bruder! Bitte, tu ihm nichts!«
» Geh raus, Réka, aber unternimm nichts Unüberlegtes. Die Wachen haben ihre Anweisungen.« Kunun wandte sich Hanna zu. » Lass uns kurz reden.«
» Was ist hier eigentlich los?«, fragte Hanna, sobald sie allein waren. Würde er es ihr sagen? War sein Vertrauen groß genug?
Ja, das war es. Vielleicht hätte er weiterhin geschwiegen, wenn er Attila inzwischen aufgespürt hätte. Doch da dies nicht der Fall war, brauchte er sie.
» Rede du mit Réka«, bat er eindringlich. » Überzeuge sie davon, dass wir ihrem Bruder nichts Böses wollen, dass ich ihn nicht umbringen werde. Sag ihr, dass es reicht, ihn in einen Schatten zu verwandeln. Dann kann er uns nicht mehr schaden.«
Hanna wartete auf mehr. Seltsamerweise wünschte sie sich, er würde ihr nicht vertrauen, es ihr nicht sagen. Dass er es tat, rührte sie gegen ihren Willen an.
» Dieses Kind bedeutet meinen Untergang«, flüsterte
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