Der Traum des Schattens
nicht erfahren, dass sie da gewesen war, vielleicht hatte Atschorek eigenmächtig gehandelt. Die Hoffnung blieb. Wochenlang hatte Réka darauf gewartet, dass sein Wagen neben ihr hielt. Dass jemand eine Tür öffnete und sie einlud einzusteigen. Dass ihr Prinz kam, um sie abzuholen. Warum sonst hätte sie sich Tag für Tag so in Schale werfen sollen? Irgendwann würde er kommen und sie mitnehmen. Er konnte gar nicht anders, denn sie gehörte zu ihm, sie war seine Prinzessin.
Was hatte sie nur geritten, sich mit dem fremden Vampir anzulegen und Kunun einen Grund zu geben, wütend auf sie zu sein? Nun hatte sie es sich ein für alle Mal mit ihm verdorben…
» Einen Moment, Réka.« Frau Apeler hatte sich vor ihrem Tisch aufgebaut.
War die Stunde schon zu Ende? Auch davon hatte sie nichts mitbekommen.
» Ja?« Sehnsüchtig musste sie zusehen, wie die anderen aus dem Klassenzimmer verschwanden.
Ihre Freundinnen warfen ihr mitleidige Blicke zu.
» Deine Leistungen haben in letzter Zeit extrem nachgelassen. Dafür ist deine Frechheit in, sagen wir, unnötigem Ausmaß gewachsen. Ich habe viel Verständnis für euch. Aber ich sehe auch, wenn jemand in eine, sagen wir, gefährliche Richtung driftet.«
» Hm«, machte Réka. » Das sagen wir, ja?«
Frau Apeler seufzte. » Schon wieder. Kannst du nicht einmal ernst bleiben? Begreifst du denn nicht, dass du dir deine Zukunft verbaust, wenn du so weitermachst?«
Entschuldigung, aber ich bin ein Vampir!, hätte sie am liebsten gerufen. Ich habe keine Zukunft – jedenfalls keine normale. Kapiert? Ich bin unsterblich. Und extrem lichtempfindlich. Außerdem brauche ich Blut. Sonst noch etwas?
» Hast du Kummer?«, hakte Frau Apeler mit ihrem schönsten Ich-verstehe-dich-und-du-kannst-mir-alles-sagen-Gesicht nach. » Hast du Ärger, vielleicht zu Hause? Ich habe gehört, dass deine Eltern sich getrennt haben. Das passiert vielen, darüber kannst du ruhig reden.«
» Nein.« Kunun wird mich nicht abholen. Er wird mich nicht noch mal einladen, in sein Schloss zu kommen. Ich habe gegen seine Regeln verstoßen, und sobald der fremde Vampir sich über mich beschwert, bin ich geliefert.
» Nein!«, wiederholte sie mit Nachdruck, da Frau Apeler immer noch mit übergroßem Verständnis auf eine Beichte wartete. » Ich habe keinen Kummer, danke der Nachfrage.«
» Tja.« Die Lehrerin wandte sich zum Gehen. » Dann liegt dein Leistungsabfall wohl daran, dass du einfach nicht schlau genug bist? Dass du nicht versetzt wirst, weißt du ja. Du denkst also, es kann nicht schlimmer kommen? Ich werde deine Eltern anrufen und ihnen mitteilen, dass du von der Schule fliegst, wenn du so weitermachst, oder besser, wenn du weiterhin nichts machst.«
» Was?« Réka sprang auf. » Das… das erlaube ich nicht!«
Sie hasste die Schule. Sie hasste den Unterricht. Sie hasste sämtliche Lehrer. Jedenfalls hatte sie das bisher gedacht. Doch das hier war der Ort, an dem sie mit ihren Freundinnen zusammentraf. Hier konnte sie Normalität spielen. Die Schule war das Einzige, was ihrem Leben Stabilität verlieh, während die Nachmittage zu Hause zunehmend unerträglich wurden, während die Nächte in blendende Scherben zerfielen, in Tanz und Rausch und… Jagd. Sie hatte nichts als die Schule. Vor den nahen Sommerferien fürchtete sie sich jetzt schon, aber die gingen wenigstens vorbei.
» Nein! Ich bleibe hier! Ich werde mich bessern, bestimmt. Ich… Sie können mich nicht rausschmeißen!«
» Ich nicht«, sagte Frau Apeler geradezu unverschämt freundlich, » aber du selbst kannst es. Wenn du darauf hinarbeitest, wird es dir gelingen, daran besteht kein Zweifel.«
» Sie dürfen meine Eltern nicht anrufen!«
Schlagartig wurde die Lehrerin ernst. » Du willst mir also vorschreiben, was ich tun darf und was nicht? Genau das meine ich. Wenn du dich weiterhin so aufspielst, als wärst du… eine Prinzessin oder was weiß ich, bist du hier am falschen Platz. In dieser Einrichtung haben immer noch die Lehrer das Sagen und nicht die Schüler.«
Réka schluckte ihre Wut hinunter. Vorsichtig befühlte sie ihre Zahnspitzen; ihr war, als müsste der Zorn sie von einem Augenblick zum anderen in ein geiferndes Monster verwandeln. Aber es geschah nicht. Sie saß immer noch auf ihrem Stuhl, die Hände um einen Bleistift gekrallt, und vor ihr stand ihre Lehrerin und blickte von oben auf sie herab.
» Das ist nicht richtig«, presste Réka heraus. » Ich müsste jemand sein, dem man gehorcht. Ich bin eine
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