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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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gefangen genommen worden? Warum hätte er das tun sollen? Sie schwieg, verwirrt, und traute sich nicht, ihn zu fragen, weil sie einen Moment lang völlig durcheinander war.
    Er umschloss ihre Hand mit seiner und ließ sie unter seinem Arm hindurchtanzen. Eine Pirouette, noch eine, bis ihr schwindlig war. Sie lehnte sich gegen ihn, reckte ihm die Lippen entgegen, und er küsste sie. Gemeinsam drehten sie sich zu einer Musik, die niemand außer ihnen hören konnte– das Knistern der Flammen, die Schreie der Verfolger, die Hörner, die durch die Stadt riefen: Feinde! Gefahr! Schatten! Feuer!
    Es bedurfte keiner Worte. Sie legte ihre Handflächen an seine zerfurchten Wangen. Jeder Graben, der sich durch seine verlorene Schönheit zog, war sein Geschenk an sie: für dich.
    Jede bittere Erinnerung, jeder Schmerz, jedes unauslöschliche Bild von Folter und Erniedrigung: für dich.
    Als sie wieder nach oben gingen, sah sie sich unauffällig um, doch der alte Wolf blieb verschwunden, als hätte sie nur von ihm geträumt.

16
    BUDAPEST, UNGARN
    Nichtsahnend trat Hanna aus der Wohnung und wurde sofort gegen die Wand gedrückt. Einen Moment lang durchfuhr sie panische Angst. Ich werde überfallen! Dann erinnerte sie sich daran, dass sie ein Schatten war. Sie hatte nichts zu befürchten. Mit einem Biss konnte sie jeden Angreifer außer Gefecht setzen.
    » Hanna.« Es war Mattim.
    Natürlich, dieser Verrückte. Sie hätte sich denken können, dass er es weiter versuchte.
    » Du quetschst mich ein«, knurrte sie. Sie überlegte, ob sie ihn einfach beißen sollte, mitten in die warme Hand, die auf ihrer Schulter lag.
    » Das ist Kununs Werk«, sagte er. » Er hat dich manipuliert, hypnotisiert. Irgendetwas hat er mit dir gemacht. Genau wie mit Adrienn. Auch sie war nicht mehr sie selbst. Erinnerst du dich wenigstens daran?«
    » Du leidest an Verfolgungswahn«, sagte sie freundlich. » Wenn du bitte einen Schritt zur Seite machen könntest…?«
    Er dachte nicht daran, sondern blieb so dicht vor ihr stehen, dass er und sie und die Wand beinahe eine Einheit bildeten. Wenn sie sich einfach durch die Mauer hätte fallen lassen können, nur um des verblüffenden Effekts willen! Obwohl es dunkel genug dafür gewesen wäre, versuchte sie es gar nicht erst. Sie bekam es nicht hin, durch den Schatten zu gehen, sooft sie es auch schon probiert hatte.
    » Er darf uns nicht auseinanderbringen«, sagte Mattim. » Du hast dir deine Erinnerungen bisher immer zurückgeholt, du kannst es auch diesmal tun. Komm mit.« Er packte sie am Arm und zog sie mit sich.
    Hanna überlegte, bis zu welchem Punkt sie auf seinen Wahnsinn eingehen sollte. Von den übrigen Schatten war zum Glück nichts zu sehen, denn sie wollte nicht, dass irgendjemand glaubte, sie müsste gerettet werden. Mit einem Menschen konnte sie auch allein fertigwerden. » Wohin?«
    » Fahr einmal mit mir im Fahrstuhl, Hanna. Bitte.«
    » Wozu?«
    Er antwortete nicht. Ohne sie loszulassen, drückte er auf den Knopf, der den Lift herbeirief, als hätte er Angst, sie könnte verschwinden. Oder die Treppe hinunterlaufen und um Hilfe schreien.
    Hanna versuchte, es mit Humor zu nehmen. » Wenn dir das Spaß macht, warum nicht? Meinetwegen können wir den ganzen Abend rauf- und runterfahren. Aber ich muss noch in die Stadt. Auf die Pirsch. Du weißt genug über die Schatten, um zu verstehen, was ich meine.«
    » Das tue ich«, sagte er gepresst.
    Als die Tür sich öffnete, schob er sie hinein. Im grellen Neonlicht wirkte sein Gesicht blass, fast weiß, und seine Augen waren dunkel und zornig. Hanna überlegte, ob sie wohl Angst vor ihm gehabt hätte, wenn es umgekehrt gewesen wäre: sie ein Mensch und er ein Schatten. Wahrscheinlich schon. Er war ein Soldat, hatte Kunun gesagt, ein Truppenführer, der Eroberer von Akink. Sie versuchte sich Mattim in irgendeiner Art von Uniform vorzustellen, selbstbewusst und gefasst, aber sein verrücktes, furchteinflößendes Lächeln machte das Bild zunichte. Kein Heerführer hätte sie so angeblickt, als wollte er einen Bann über sie legen. Eher noch ein Zauberer.
    Er streckte die Hand aus und berührte die Stopptaste. Der Fahrstuhl hielt an.
    » Was soll das denn jetzt?«
    » Kommt dir diese Situation nicht irgendwie bekannt vor?«
    » Nicht dass ich wüsste. Warum?«
    Er lehnte den Kopf gegen die Glasscheibe und schloss die Augen. Sie konnte förmlich fühlen, wie er um Fassung rang. Nach seinem Ausbruch neulich im Hof zu schließen, schien er ein Typ zu

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