Der Traum
Landstraße, wie er heimkehrte, sie lief hinunter, so außer sich vor Freude, daß sie darob auf der letzten Treppenstufe starb; und heute noch stieg sie, sowie die Abenddämmerung herniedersank, durch die Ruinen hinab, man sah sie von Stockwerk zu Stockwerk laufen, durch die Gänge und Gemächer eilen, wie einen Schatten hinter den gähnend ins Leere aufgetanen Fenstern vorbeiziehen. Alle kamen wieder, Ysabeau, Gudule, Ivonne, Austreberthe, all die Glücklichen Toten, geliebt vom Tode, der ihnen das Leben erspart hatte, indem er sie sehr jung, im Entzücken ihres ersten Glücks mit einem Flügelschlag entführt hatte. In manchen Nächten erfüllte ihr weißer Flug gleich einer Schar Tauben die Burg. Und selbst die letzte erschien unter ihnen, die Mutter des Sohnes des jetzigen Bischofs, die man leblos ausgestreckt vor der Wiege ihres Kindes gefunden, wohin sie, die krank war, sich geschleppt hatte, um zu sterben, zu Boden geschmettert durch die Freude, ihr Kind zu umarmen. Diese Geschichten kehrten in Angéliques Phantasie immer wieder: sie sprach davon wie von feststehenden Tatsachen, die tags zuvor geschehen waren; sie hatte die Namen von Laurette und Balbine auf alten Grabsteinen gelesen, die in die Mauern der Kapelle eingelassen waren. Nun, warum sollte sie denn nicht ganz jung sterben, glücklich auch sie? Die Wappen erstrahlten, der Heilige stieg aus seinem Fenster herab, und sie wurde in dem schwachen Hauch eines Kusses zum Himmel entführt.
Die »Legenda aurea« hatte es sie gelehrt: ist nicht das Wunder die allgemeine Regel, der gewöhnliche Gang der Dinge? Das Wunder ist wahrhaftig, ist allgegenwärtig, es geschieht bei jedem Anlaß mit größter Mühelosigkeit, vervielfältigt sich, breitet sich aus, strömt über, selbst wenn es nutzlos bleibt, rein um des Vergnügens willen, die Gesetze der Natur zu verneinen. Man lebt auf gleicher Ebene mit Gott. Abgar89, König von Edessa, schreibt an Jesus, der ihm antwortet. Ignatius90 empfängt Briefe von der Heiligen Jungfrau. Allerorten erscheinen die Mutter und der Sohn, verkleiden sich, plaudern mit der Miene lächelnder Biederkeit. Als Stephanus91 ihnen begegnet, ist er voller Vertrautheit. Alle Jungfrauen vermählen sich mit Jesus, die Märtyrer steigen zum Himmel auf, um sich mit Maria zu vereinigen. Und was die Engel und die Heiligen betrifft, so sind sie die alltäglichen Gefährten der Menschen, gehen, kommen, gleiten durch Wände hindurch, zeigen sich im Traum, sprechen von den Wolken herab, sind bei der Geburt und beim Tode zugegen, helfen in Todesnöten, befreien aus finsteren Kerkern, bringen Antworten, erledigen Aufträge. Auf ihrem Wege ist es ein unerschöpfliches Blühen von Wundern. Silvester92 bindet einem Drachen den Rachen mit einem Faden zu. Die Erde hebt sich, um Hilarius, den seine Gefährten erniedrigen wollten, als Sitz zu dienen. Ein Edelstein fällt vom Himmel in den Kelch des heiligen Lupus93. Ein Baum zerschmettert die Feinde des heiligen Martin, ein Hund läßt einen Hasen laufen, eine Feuersbrunst hört auf zu brennen, wenn er es befiehlt. Maria Aegyptiaca schreitet über das Wasser, Bienen schlüpfen aus dem Munde des Ambrosius94 bei seiner Geburt. Unaufhörlich heilen die Heiligen kranke Augen, gelähmte oder verdorrte Glieder, den Aussatz und vor allem die Pest. Nicht eine Krankheit widersteht dem Zeichen des Kreuzes. Aus einer Menschenmenge werden die Leidenden und die Schwachen ausgesondert, um durch einen Blitzstrahl in Massen geheilt zu werden. Der Tod ist überwunden; die Auferstehungen sind so häufig, daß sie zu den gewöhnlichen Ereignissen des Alltags gehören. Und wenn die Heiligen selber den Geist aufgegeben haben, hören die Wunder nicht auf, sie verdoppeln sich, sie sind wie die immer wiederkehrenden Blumen auf ihren Gräbern. Zwei Brunnen mit Öl, ein unfehlbares Heilmittel, entspringen zu Füßen und zu Häupten des Nikolaus. Rosenduft steigt aus dem Sarge der Cäcilia auf, als man ihn öffnet. Der Sarg der Dorothea ist voller Himmelsbrot. Alle Gebeine der Jungfrauen und der Märtyrer bringen die Lügner in Verwirrung, zwingen die Diebe, ihren Raub zurückzugeben, erhören die Wünsche unfruchtbarer Frauen, geben Sterbenskranken die Gesundheit wieder. Nichts ist mehr unmöglich, das Unsichtbare herrscht, das einzige Gesetz ist die Laune des Übernatürlichen. In den Tempeln mischen sich die Zauberer ein, man sieht Sicheln ganz alleine mähen und eherne Schlangen sich bewegen, man hört Bronzestatuen lachen und
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