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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Besitz eines Zwanzigfrancsstückes, das wie eine Monstranz glänzte. Als sie eines Abends der Mutter Gabet einen Besuch abstattete, bat diese sie sogar, hinunterzugehen und ihr eine Banknote zu wechseln. Und was für ein Herzeleid war es für sie, sich ihrer Ohnmacht innezuwerden, sie, der es an Geld fehlte, während er so einfach seine Börse ausleerte! Gewiß, sie freute sich über den unverhofften Gewinn um ihrer Armen willen; aber es beglückte sie nicht mehr, etwas zu geben, sie war traurig, nur so wenig geben zu können, während ein anderer so viel gab. Der Ungeschickte, der das nicht begriff, der sie zu gewinnen glaubte, gab einem mitleidigen Bedürfnis nach Freigebigkeit nach und machte so ihre Almosen zunichte. Abgesehen davon, daß sie bei all den Elenden Lobsprüche über ihn hinnehmen mußte: ein so guter, so sanfter, so wohlerzogener junger Mann! Sie sprachen nur noch von ihm, sie breiteten seine Gaben aus, als wollten sie ihre Gaben herabwürdigen. Trotz ihres Schwurs, ihn zu vergessen, erkundigte sie sich über ihn:
    Was hatte er dagelassen? Was hatte er gesagt? Und er war schön, nicht wahr? Und weichherzig, und schüchtern! Ob er wohl gar wagte, von ihr zu sprechen?
    Ach, gewiß, er sprach immer von ihr!
    Nun verwünschte sie ihn entschieden, denn es wurde ihr schließlich zu schwer ums Herz.
    Kurzum, so konnte es nicht weitergehen; und in der lächelnden Dämmerung eines Maienabends brach die Katastrophe herein. Es geschah bei den Lemballeuses, bei dieser Brut von Bettelweibern, die sich in den Trümmern der alten Mühle vergruben. Nur Frauen waren da, Mutter Lemballeuse, eine runzelige Alte, Tienette, die älteste Tochter, ein großes, ungebärdiges Frauenzimmer von zwanzig Jahren, ihre beiden kleinen Schwestern, Rose und Jeanne, deren schon kecke Augen unter dem fuchsroten Haarschopf hervorlugten. Alle vier bettelten auf den Landstraßen, an den Straßengräben, kehrten spätabends todmüde zurück, mit zerschlagenen Füßen in ihren abgetragenen Schuhen, die von Bindfäden zusammengehalten wurden. Und gerade an jenem Abend war Tienette, die die ihren zuletzt zwischen den Steinen hatte liegenlassen, verwundet, mit blutenden Knöcheln zurückgekommen. Vor ihrer Tür saß sie mitten im hohen Gras des Clos Marie und zog sich Dornen aus dem Fuß, während die Mutter und die beiden Kleinen um sie herum jammerten.
    In diesem Augenblick kam Angélique, unter ihrer Schürze das Brot verborgen haltend, das sie ihnen jede Woche brachte. Sie war durch die kleine Gartentür geschlüpft und hatte sie hinter sich offengelassen, denn sie wollte gleich wieder zurücklaufen. Doch der Anblick der ganzen in Tränen aufgelösten Familie hielt sie auf.
    »Was ist denn? Was haben Sie?«
    »Ach, mein gutes Fräulein«, stöhnte Mutter Lemballeuse, »sehen Sie nur, wie dieses dumme Ding sich zugerichtet hat! Morgen wird sie nicht laufen können, das ist ein verlorener Tag ... Schuhe müßte sie haben.«
    Rose und Jeanne sahen mit flammenden Augen unter ihrer Mähne hervor und schluchzten noch einmal so laut, während sie mit schriller Stimme riefen:
    »Schuhe müßte sie haben, Schuhe müßte sie haben!«
    Tienette hatte ihren mageren schwarzen Kopf halb gehoben. Wütend hatte sie dann ohne ein Wort ihre Wunde noch mehr zum Bluten gebracht, indem sie einem langen Dorn mit Hilfe einer Stecknadel erbittert zu Leibe ging.
    Bewegt gab Angélique ihr Almosen.
    »Nehmen Sie immerhin erst mal das Brot.«
    »Oh, Brot!« begann die Mutter wieder. »Sicher braucht man Brot. Aber sie wird gewiß nicht auf Brot laufen können. Und in Bligny ist Jahrmarkt, ein Jahrmarkt, auf dem sie alle Jahre mehr als vierzig Sous zusammenbringt ... Du mein lieber Gott! Was soll bloß aus uns werden?«
    Vor Mitleid und Verlegenheit fand Angélique keine Worte mehr. Sie hatte runde fünf Sous in der Tasche. Mit fünf Sous konnte man kaum Schuhe kaufen, nicht einmal gebrauchte. Jedesmal lähmte sie ihr Mangel an Geld. Und es brachte sie in dieser Minute ganz außer sich, als sie die Augen abwandte, ausgerechnet Félicien zu erblicken, der einige Schritte entfernt dastand in der zunehmenden Dunkelheit. Er hatte sicherlich alles gehört, vielleicht war er schon lange da. Immer tauchte er auf diese Weise in ihrer Nähe auf, ohne daß sie jemals wußte, woher noch wie er gekommen war.
    Er wird die Schuhe schenken! dachte sie.
    Tatsächlich trat er schon herzu. Am blaßvioletten Himmel gingen die ersten Sterne auf. Ein tiefer lauer Friede sank herab,

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