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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Teufel willfährig sind? Die so leise gemurmelten Worte »Ich liebe Sie!« hallten mit solchem Tosen an ihrem Ohr wider, daß sie ganz gewiß von irgendeiner tief im Unsichtbaren verborgenen, furchtbaren Macht herkamen. Aber in der Unwissenheit und Einsamkeit, in der sie aufgewachsen, wußte sie nichts, konnte sie nichts wissen.
    Hatte sie mit diesem jungen Mann gesündigt? Und sie versuchte sich der Vorgänge möglichst genau zu erinnern, sie durchforschte angsterfüllt ihr unschuldiges Gewissen. Was war denn Sünde? Genügte dazu, sich zu sehen, zu plaudern und dann die Eltern zu belügen? Das konnte doch nicht das Böse sein. Warum nur war ihr so zum Ersticken? Warum, wenn sie nicht schuldig war, hatte sie das Gefühl, eine andere zu werden, von einer neuen Seele in Aufruhr versetzt zu sein? Vielleicht wuchs die Sünde dort, in diesem dumpfen Unbehagen, dem sie fast erlag. Ihr Herz war voller unbestimmter, unklarer Dinge, ein ganzes Durcheinander von künftigen Worten und Geschehnissen, vor denen sie erschrak, bevor sie sie begriff. Eine Woge Blut färbte ihre Wangen purpurn, sie hörte das Dröhnen der schreckenerregenden Worte »Ich liebe Sie!«; und sie überlegte nicht länger, sie begann wieder zu schluchzen, weil sie irre wurde an den Tatsachen und darüber hinaus in alldem, was nicht Namen noch Gestalt hatte, die Sünde fürchtete.
    Es quälte sie sehr, daß sie sich Hubertine nicht anvertraut hatte. Wenn sie sie hätte fragen können, hätte diese ihr ohne Zweifel mit einem Wort das Geheimnis enthüllt. Zudem schien es ihr, daß sie schon gesundet wäre, wenn sie nur zu jemand von ihrem Leid hätte sprechen können. Aber das Geheimnis war zu groß geworden, sie wäre vor Scham gestorben. Sie verstellte sich, gab sich gelassen, wenn es tief in ihrem Innern stürmte. Wenn man sie fragte, warum sie so zerstreut war, blickte sie überrascht auf und erwiderte, es sei nichts. Während sie sehr brav vor ihrem Stickrahmen saß und ihre Hände mechanisch die Nadel durch den Stoff zogen, wurde sie von morgens bis abends von einem einzigen Gedanken aufgewühlt. Sie wurde geliebt, sie wurde geliebt! Und sie, liebte auch sie? Es war dies eine noch unklare Frage, auf die sie in ihrer Unwissenheit keine Antwort fand. Sie wiederholte sie sich, bis ihr schwindlig wurde, die Worte verloren ihren gewöhnlichen Sinn, alles ging in eine Art Taumel über, der sie mit fortriß. Mühsam nahm sie sich zusammen, fand sie sich wieder, mit der Nadel in der Hand, stickte dennoch mit ihrem gewohnten Fleiß, gleichsam wie im Traum. Vielleicht schwelte in ihr irgendeine schwere Krankheit. Eines Abends überlief sie beim Zubettgehen ein Schauer; sie glaubte, sie werde sich nicht wieder erheben. Ihr Herz schlug zum Zerspringen, in ihren Ohren dröhnte es wie Glockengeläut. Liebte sie, oder würde sie sterben? Und sie lächelte friedlich Hubertine zu, die sie beim Wachsen ihres Fadens besorgt musterte.
    Im übrigen hatte sich Angélique geschworen, Félicien niemals wiederzusehen. Sie wagte sich nicht mehr ins wildwachsende Gras des ClosMarie, sie ging nicht einmal mehr zu ihren Armen. Sie wurde die Angst nicht los, es könne an dem Tage, da sie sich von Angesicht zu Angesicht wieder gegenüberstehen würden, etwas Schreckliches geschehen. Zu ihrem Entschluß kam außerdem ein Gedanke der Buße hinzu, um sich für die Sünde zu strafen, die sie hatte begehen können. Und wenn sie des Morgens besonders streng gegen sich sein wollte, verurteilte sie sich dazu, keinen einzigen Blick aus dem Fenster zu werfen, aus Angst, am Ufer des ChevrotteBaches den zu erblicken, den sie fürchtete. Und wenn die Versuchung sie dazu verführte, doch hinauszuschauen, und er war nicht da, so war sie bis zum nächsten Tag ganz traurig.
    Eines Morgens nun übertrug Hubert gerade ein Muster auf eine Dalmatika, als es klingelte und er nach unten gehen mußte. Das war sicher ein Kunde, zweifellos irgendein Auftrag, denn Hubertine und Angélique hörten das Stimmengemurmel durch die offengebliebene Tür zum Treppenhaus. Dann blickten sie sehr überrascht auf: Schritte kamen herauf, der Sticker brachte den Kunden mit, was niemals vorkam. Und das junge Mädchen war zutiefst erschüttert, als es Félicien erkannte. Es war einfach gekleidet, als Kunsthandwerker, dessen Hände auch bei der Arbeit nicht schmutzig werden. Da sie nicht mehr zu ihm ging, kam er zu ihr nach Tagen vergeblichen Wartens und angstvoller Ungewißheit, in denen er sich immer wieder gesagt hatte,

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