Der Traum
schläferte den ClosMarie ein, dessen Weiden in Schatten ertranken. Die Kathedrale war nur noch ein schwarzer Balken am Abendhimmel.
Er wird bestimmt die Schuhe schenken!
Und sie war wirklich verzweifelt darüber. Er würde also alles schenken, nicht ein einziges Mal würde sie ihn übertreffen! Ihr Herz schlug zum Zerspringen, sie hätte sehr reich sein mögen, um ihm zu zeigen, daß auch sie Menschen glücklich machen könne.
Aber die Lemballeuses hatten den guten Herrn gesehen, die Mutter war zu ihm hingestürzt, die beiden kleinen Schwestern greinten mit ausgestreckter Hand, während die große ihre blutenden Knöchel losließ und mit schiefem Blick zu ihm hinsah.
»Hören Sie, meine brave Frau«, sagte Félicien, »Sie gehen in die Grand˜Rue, Ecke Rue Basse ...«
Angélique hatte begriffen, dort war ein Schuhmacherladen. Sie unterbrach ihn rasch und so aufgeregt, daß sie aufs Geratewohl irgendwelche Worte stammelte:
»Das ist aber ein unnützer Weg! – Wozu? – Es ist viel einfacher ...« Es fiel ihr nicht ein, dieses viel Einfachere. Was tun, was erfinden, um ihn mit seinem Almosen zu übertreffen? Niemals hätte sie geglaubt, daß sie ihn so verabscheute.
»Sagen Sie, daß Sie von mir kommen«, begann Félicien wieder. »Verlangen Sie ...«
Von neuem unterbrach sie ihn und wiederholte mit angstvoller Miene:
»Es ist viel einfacher ... es ist viel einfacher ...« Plötzlich ruhig geworden, setzte sie sich auf einen Stein, band mit rascher Hand ihre Schuhe auf, zog sie aus, zog auch die Strümpfe aus. »Da! Es ist so einfach! Warum Umstände machen?«
»Ach, mein gutes Fräulein, Gott vergelte es Ihnen!« rief Mutter Lemballeuse, während sie die beinahe neuen Schuhe prüfend betrachtete. »Ich werde sie oben aufschneiden, damit sie passen ... Tienette, bedanke dich, du dummes Ding!«
Tienette riß Rose und Jeanne die Strümpfe aus den Händen, die diese gerne haben wollten. Sie tat die Lippen nicht auf.
Doch in diesem Augenblick bemerkte Angélique, daß ihre Füße nackt waren und daß Félicien sie so sah. Verwirrung überkam sie. Sie wagte nicht mehr, sich zu rühren, weil sie sicher war, daß er noch mehr sehen würde, wenn sie aufstand. Dann schreckte sie auf, ergriff kopflos die Flucht. Ihre kleinen schneeweißen Füße eilten im Gras dahin. Die Dunkelheit hatte noch zugenommen, zwischen den großen Bäumen in der Nachbarschaft und der schwarzen Masse der Kathedrale wurde der ClosMarie zu einem Schattensee. Und in der Finsternis war nichts weiter zu erkennen als die über dem Erdboden entfliehenden kleinen weißen Füße, so atlasweiß wie die Tauben.
Da Angélique Angst vor dem Wasser hatte, lief sie erschrocken am ChevrotteBach entlang, um zu dem Brett zu gelangen, das als Brücke darüber gelegt war.
Doch Félicien hatte sich durch das Gestrüpp gearbeitet und ihr den Weg abgeschnitten. Da er bisher so schüchtern gewesen, war er beim Anblick ihrer weißen Füße mehr errötet als sie; und eine Flamme trieb ihn weiter, er hätte die Leidenschaft, die gleich am ersten Tag ganz und gar von ihm Besitz ergriffen, im Überschäumen seiner Jugend hinausschreien mögen. Doch dann, als sie ihn streifte, vermochte er das Geständnis, das ihm auf den Lippen brannte, nur zu stammeln:
»Ich liebe Sie.«
Bestürzt war sie stehengeblieben. Unverwandt schaute sie ihn einen Augenblick an. Ihr Zorn, der Haß, den sie zu haben glaubte, schwand dahin, zerschmolz zu einem Gefühl köstlichen Bangens. Was hatte er gesagt, das sie so erschüttert hatte? Er liebte sie, sie wußte es, und da brachten sie nun die dicht an ihrem Ohr gemurmelten Worte vor Staunen und Furcht in Verwirrung.
Er war kühner geworden, und da ihm das Herz aufging, das dem ihren durch die gemeinsame Wohltätigkeit nähergerückt war, sagte er immer wieder:
»Ich liebe Sie.«
In ihrer Angst vor dem Verliebten ergriff sie von neuem die Flucht. Der ChevrotteBach konnte sie nicht mehr aufhalten, sie stieg hinein wie ein verfolgtes Reh, ihre kleinen weißen Füße eilten im Schauer des eiskalten Wassers über die Kiesel. Die Gartentür schloß sich wieder, die Füße verschwanden.
Kapitel VI
Zwei Tage lang war Angélique ganz niedergedrückt von Gewissensbissen. Sobald sie allein war, weinte sie, als hätte sie etwas Schlimmes begangen. Und immer von neuem erhob sich beängstigend und dunkel die Frage: Hatte sie mit diesem jungen Mann gesündigt? War sie verloren gleich jenen verworfenen Frauen in der »Legenda aurea«, die dem
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