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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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sein, den er mit seinem Fieber erfüllte. Er kam hinter jedem Baumstamm hervor, sein Kopf tauchte über jedem Dornengestrüpp auf. Wie die Ringeltauben in den großen Ulmen mußte er wohl seine Bleibe ganz in der Nähe zwischen zwei Ästen haben. Der ChevrotteBach bot ihm einen Vorwand, sich hier aufzuhalten, sich über die Strömung zu beugen und so zu tun, als schaue er dem Flug der Wolken nach. Eines Tages sah sie ihn zwischen den Ruinen der Mühle auf dem Gebälk eines auseinandergefallenen Schuppens stehen; er freute sich, so ein wenig höher gekommen zu sein, obwohl es ihm leid tat, daß er nicht zu ihrer Schulter fliegen konnte. An einem anderen Tag unterdrückte sie einen leisen Schrei, als sie ihn über sich zwischen zwei Fenstern der Kathedrale auf dem Dachumgang über den Kapellen des Chores erblickte. Wie hatte er auf diese Galerie gelangen können, die durch eine Tür verschlossen war und deren Schlüssel der Kirchendiener in Verwahrung hatte? Wie kam es, daß sie ihn zu anderen Malen dicht unter dem Himmel wiedersah, zwischen den Strebebögen des Kirchenschiffes und den Krabben der Strebepfeiler? Aus diesen Höhen ließ er seinen Blick tief hinabtauchen in ihr Zimmer, gleich den Schwalben, die um die Spitze der Glockentürmchen fliegen. Niemals war ihr der Gedanke gekommen, sich zu verstecken. Und von da an verschanzte sie sich, und eine zunehmende Unruhe erfaßte sie bei dem Gefühl, belagert zu werden, ständig zu zweit zu sein. Wenn sie keine Ruhelosigkeit erfüllte, warum schlug dann ihr Herz so stark wie die große Glocke droben im Glockenturm, wenn sie in vollem Schwung an den Hochfesten dröhnte?
    Drei Tage vergingen, ohne daß Angélique sich zeigte, denn sie war erschreckt durch die zunehmende Kühnheit Féliciens. Sie schwor sich, ihn nicht wiederzusehen, sie redete sich ein, ihn zu verabscheuen. Aber er hatte sie angesteckt mit seinem Fieber, es hielt sie nicht an einem Fleck, alle Vorwände waren ihr recht, um das Meßgewand liegenzulassen, an dem sie gerade stickte. Da sie erfahren hatte, daß Mutter Gabet in tiefstem Elend lebte und ans Bett gefesselt war, ging sie denn jeden Morgen zu ihr. Die alte Frau wohnte in der Rue des Orfèvres, drei Türen weiter. Angélique brachte ihr Fleischbrühe und Zucker dorthin, ging für sie zum Apotheker in der Grand˜Rue die Arzneien kaufen. Und als sie eines Tages, mit Paketen und Fläschchen beladen, wieder zurückkam, fand sie zu ihrer großen Bestürzung Félicien am Bett der kranken alten Frau vor. Er wurde hochrot und machte sich unbeholfen davon. Als sie am folgenden Tag gerade wieder weggehen wollte, stellte er sich wieder ein, unwillig machte sie ihm Platz. Wollte er sie denn daran hindern, ihre Armen zu besuchen? Sie war gerade von einer jener Anwandlungen von Wohltätigkeit ergriffen, bei denen sie sich geradezu völlig verschenkte, um jene mit Gaben zu überschütten, die gar nichts hatten. Ihr Wesen schmolz beim Gedanken an das Leiden in mitfühlendem Erbarmen dahin. Sie lief zu Vater Mascart, einem gelähmten Blinden aus der Rue Basse, dem sie selber half, den Teller Suppe zu löffeln, die sie mitbrachte; zu den Chouteaus, zwei alten Leuten von neunzig Jahren, die einen Keller in der Rue Magloire bewohnten, den Angélique mit alten Möbeln vom Boden der Huberts eingerichtet hatte; zu anderen und wieder anderen, zu allen Elenden des Stadtviertels, die sie heimlich mit Dingen unterstützte, die in ihrer Umgebung herumlagen, war glücklich, wenn sie ihnen eine Überraschung bereiten konnte und sie über irgendeinen Rest vom Vortag vor Freude strahlten. Und bei allen traf sie nun Félicien! Niemals hatte sie ihn so oft erblickt, sie, die es aus Furcht, ihn wiederzusehen, vermied, sich ans Fenster zu stellen. Ihre Verwirrung nahm zu, sie glaubte, sie sei sehr zornig.
    Das Schlimmste bei diesem Abenteuer war wirklich, daß Angélique bald an ihrem Liebeswerk verzweifelte. Dieser Junge verdarb ihr die Freude am Gutsein. Früher war er vielleicht zu anderen Armen gegangen, aber nicht zu diesen hier, denn bei diesen hatte er sich nicht sehen lassen; und er hatte ihr sicher aufgelauert, war ihr sicher nachgestiegen, um diese Leute kennenzulernen und sie ihr so einen nach dem anderen wegzunehmen. Jedesmal wenn sie mit einem Lebensmittelkörbchen zu den Chouteaus kam, lagen jetzt Silberstücke auf dem Tisch. Als sie Vater Mascart, der unaufhörlich um Tabak barmte, eines Tages zehn Sous brachte, ihre Ersparnisse der ganzen Woche, fand sie ihn im

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