Der Traum
der undurchdringlichen Dunkelheit nicht, ging stracks auf das Brett zu, das über den ChevrotteBach führte, tastete sich wie an einem vertrauten Ort, wo jeder Baum ihr bekannt war, vorwärts. Und als sie sich nach rechts wandte, brauchte sie unter einer Weide nur die Hände auszustrecken, um den Händen desjenigen zu begegnen, von dem sie wußte, daß er da ihrer harrte.
Stumm drückte Angélique Féliciens Hände. Sie konnten einander nicht sehen, der Himmel hatte sich mit einer Dunstwolke überzogen, durch die der abnehmende Mond, der eben aufging, noch nicht hindurchschien.
Und sie sprach in der Finsternis, sie redete sich ihre große Freude vom Herzen:
»Ach, lieber Herr, wie liebe ich Sie und wie danke ich Ihnen!« Sie lachte, daß sie endlich wußte, wer er war, sie dankte ihm, daß er jung, schön, reich sei, mehr noch, als sie es erhofft hatte. Es war eine klingende Fröhlichkeit, der Ausruf höchster Verwunderung und Dankbarkeit angesichts dieses Geschenks der Liebe, das ihr Traum ihr darbrachte. »Sie sind der König, Sie sind mein Herr, und ich gehöre nun Ihnen, mir tut es nur leid, daß ich so gering bin ... Doch ich habe den Stolz, Ihnen anzugehören, und Ihre Liebe genügt, um auch mich zur Königin zu machen ... Mochte ich es auch gewußt und mochte ich Sie auch erwartet haben, mein Herz ist weiter geworden, seit Sie darinnen sind ... Ach, lieber Herr, wie ich Ihnen danke und wie ich Sie liebe!«
Da legte er sanft den Arm um sie, führte sie fort und sagte:
»Kommen Sie mit zu mir.«
Er führte sie durch das Gras bis ans Ende des Clos Marie; und sie konnte sich nun erklären, wie er jeden Abend durch das alte, früher vernagelte Gitter des bischöflichen Gartens kam. Er hatte dieses Gitter offengelassen, er führte sie an seinem Arm in den großen Garten des Bischofs. Am Himmel färbte der mählich aufsteigende Mond den Schleier warmer Dünste, hinter dem er sich verbarg, mit milchigem, durchsichtigem Weiß. Das ganze Himmelsgewölbe, an dem nicht ein Stern stand, wurde so erfüllt von einem Lichtstaub, der in der heiteren Ruhe der Nacht stumm herniederregnete. Langsam gingen sie den Chevrotte Bach hinauf, der durch den Park floß; doch das war nicht mehr der schnelle Bach, der über einen steinigen Hang hinabstürzte; es war ein ruhiges Wasser, ein matt gewordenes Wasser, das zwischen Baumgruppen dahinirrte. Und unter der leuchtenden Wolke, zwischen diesen in Licht gebadeten und schwebenden Bäumen schien der elysische Fluß in einem Traum dahinzufließen.
Angélique hatte fröhlich wieder zu reden begonnen:
»Ich bin so stolz und so glücklich, so an Ihrem Arm dahinzuschreiten!«
Entzückt von soviel kindlicher Einfalt und Anmut, hörte Félicien zu, wie sie sich unbefangen ausdrückte, nichts verbarg, in der Natürlichkeit ihres Herzens laut sagte, was sie dachte.
»Ach, teure Seele, ich muß Ihnen dankbar sein, daß Sie mich so freundlicherweise ein wenig lieben wollen ... Sagen Sie mir noch einmal, wie Sie mich lieben, sagen Sie mir, was in Ihnen vorgegangen ist, als Sie endlich erfahren haben, wer ich bin.«
Doch mit einer hübschen Gebärde der Ungeduld unterbrach sie ihn:
»Nein, nein, sprechen wir von Ihnen, nur von Ihnen. Zähle ich denn? Ist es denn wichtig, was ich bin, was ich denke? – Es gibt jetzt nur noch Sie.« Und während sie sich an ihn schmiegte und am Ufer des verzauberten Flusses den Schritt verlangsamte, stellte sie ihm Fragen ohne Ende, wollte sie alles kennenlernen, seine Kindheit, seine Jugend, die zwanzig Jahre, die er fern von seinem Vater verlebt hatte. »Ich weiß, daß Ihre Mutter bei Ihrer Geburt gestorben ist und daß Sie bei einem Onkel, einem alten Abbé, herangewachsen sind ... Ich weiß, daß der Bischof sich weigerte, Sie wiederzusehen ...«
Er sprach sehr leise mit einer fernen Stimme, die aus der Vergangenheit aufzusteigen schien:
»Ja, mein Vater hatte meine Mutter angebetet, ich war schuld an allem, weil ich zur Welt gekommen bin und sie getötet habe ... Mein Onkel erzog mich so, daß ich nichts über meine Familie erfuhr, und dermaßen streng, als wäre ich ein armes Kind gewesen, das bei ihm in Pflege war. Ich habe die Wahrheit erst später erfahren, vor kaum zwei Jahren ... Aber das hat mich nicht überrascht, ich spürte diesen großen Reichtum hinter mir. Jede geregelte Arbeit langweilte mich, ich taugte nur dazu, durch die Felder zu streifen. Dann hat sich meine Leidenschaft für die Glasfenster unserer kleinen Kirche gezeigt
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