Der Traum
sprachen sie nicht ein Wort über die Dinge, von denen ihre Herzen überflossen, und sie war ergriffen von dieser Kraft und dieser Redlichkeit, mit der Angélique ihren Schwur hielt. Eine jähe Anwandlung von Zärtlichkeit ließ sie beide Arme ausbreiten, und das junge Mädchen warf sich ihr an die Brust, und stumm umarmten sich beide.
Als Hubertine wieder zu sprechen vermochte, sagte sie dann:
»Ach, mein armes Kind, ich habe darauf gewartet, mit dir allein zu sein, du mußt wissen ... Alles ist zu Ende, ganz zu Ende.«
Fassungslos richtete Angélique sich wieder auf und rief:
»Félicien ist tot!«
»Nein, nein.«
»Wenn er nicht kommt, dann ist er tot!«
Und Hubertine mußte erklären, daß sie ihn am Tage nach der Prozession aufgesucht hatte, um auch von ihm den Schwur zu verlangen, nicht wieder aufzutauchen, solange er nicht des Bischofs Erlaubnis hätte. Es war ein endgültiger Abschied, denn sie wußte, daß die Heirat unmöglich war. Er war ganz zerknirscht, als sie ihm klarmachte, wie schlecht er handelte, indem er dieses vertrauensvolle, unwissende arme Mädchen in Ungelegenheiten brachte, ohne es eines Tages heiraten zu können; und auch er hatte aufgeschrien, er würde vor Kummer, sie nicht wiederzusehen, lieber sterben, als unredlich zu sein. Am selben Abend beichtete er seinem Vater.
»Sieh«, begann Hubertine wieder, »du hast so viel Mut, daß ich ohne Umschweife zu dir sprechen kann ... Ach, wenn du wüßtest, mein Liebling, wie leid du mir tust und wie ich dich bewundere, seit ich fühle, wie stolz, wie tapfer du dich hältst, daß du schweigst und fröhlich bist, wenn dein Herz zerspringt ... Aber du mußt noch mehr Mut, viel, viel mehr Mut aufbringen ... Ich habe heute nachmittag Abbé Cornille getroffen. Es ist alles zu Ende, der hochwürdigste Herr Bischof willigt nicht ein.«
Sie war auf einen Tränenausbruch gefaßt, und sie war erstaunt, zu sehen, wie Angélique sich sehr bleich mit ruhiger Miene wieder hinsetzte.
Der alte Eichentisch war abgeräumt, eine Lampe erhellte die frühere Gesindestube, in deren Friede nur das leise Summen der Wasserkessel zu hören war.
»Mutter, nichts ist zu Ende ... Erzählt mir, ich habe ein Recht darauf, alles zu erfahren, nicht wahr? Denn das ist ja meine Angelegenheit.«
Und Angélique hörte aufmerksam zu, als Hubertine ihr das erzählte, was sie glaubte, ihr von den Dingen sagen zu können, die sie selber vom Abbé gehört hatte. Sie ließ in ihrem Bericht gewisse Einzelheiten aus und verbarg so weiterhin vor diesem unwissenden Kind den Ernst des Lebens.
Seit der Bischof seinen Sohn zu sich geholt hatte, lebte er in Unruhe. Nachdem er ihn gleich nach dem Tode seiner Frau aus seiner Nähe entfernt und ihn zwanzig Jahre lang nicht hatte sehen wollen, sah er ihn nun in der Kraft und dem Glanz der Jugend, als lebendes Abbild jener, die er beweinte, so alt, wie sie damals gewesen in der blonden Anmut ihrer Schönheit. Diese lange Verbannung, dieser Groll gegen das Kind, das ihn um die Frau gebracht hatte, war auch eine Erwägung der Klugheit: er fühlte es zu dieser Stunde, er bereute, daß er anderen Willens geworden. Das Alter, zwanzig Jahre der Gebete, Gott, der in ihn hinabgestiegen, nichts hatte den Mann von früher getötet. Und es genügte, daß dieser Sohn seines Fleisches, dieses Fleisch der angebeteten Frau vor ihm stand mit dem Lachen seiner blauen Augen, damit sein Herz zum Zerspringen schlug, da es glaubte, die Tote sei wiederauferstanden. Er schlug sich mit der Faust an die Brust, er schluchzte in unwirksamer Buße und schrie, man müsse denen das Priesteramt untersagen, die vom Weibe gekostet, die ein Unterpfand der Liebe von ihm zurückbehalten haben.
Die Hände hatten dem guten Abbé Cornille gezittert, als er zu Hubertine darüber gesprochen. Geheimnisvolle Gerüchte gingen um, man tuschelte, der Bischof schließe sich bei Einbruch der Dämmerung ein; und es waren Nächte des Kampfes, der Tränen, der Klagen, deren Heftigkeit, durch die Wandbehänge gedämpft, den Bischofspalast in Schrecken versetzte. Er hatte geglaubt, er könne vergessen, er könne die Leidenschaft bezwingen; doch mit Sturmesgewalt erstand sie wieder in dem schrecklichen Manne, der er einst gewesen, dem Abenteurer, dem Nachkommen sagenhafter Feldherren. Jeden Abend bemühte er sich, auf den Knien liegend, die Haut von Geißelhieben zerschunden, das Phantom der schmerzlich beklagten Frau zu verjagen, beschwor er aus dem Sarg den Staub herauf, zu dem sie nun
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