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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Bestimmtes drang zu ihr. Ungeduld überkam sie, daß die Gewißheit so lange auf sich warten ließ, und beim Einschlafen ertappte sie sich dabei, wie sie sagte: »Morgen spreche ich mit dem Bischof.«
    Als sie erwachte, erschien ihr ihr Schritt ganz einfach und notwendig. Es war unbefangene und beherzte Leidenschaft, ihr Heldenmut war von großer, stolzer Reinheit beseelt.
    Sie wußte, daß der Bischof jeden Sonnabend gegen fünf Uhr des Abends in der HautecœurKapelle niederkniete, wo er gern allein betete, ganz der Vergangenheit seines Geschlechts und seiner eigenen Vergangenheit hingegeben; hier suchte er die Einsamkeit, auf die sein gesamter Klerus Rücksicht nahm; und es war gerade Sonnabend. Sie hatte schnell einen Entschluß gefaßt. Im Bischofspalast hätte man sie vielleicht nicht empfangen; andererseits waren dort immer Leute, die hätten sie verwirrt; während es doch so bequem war, in der Kapelle zu warten und vor den Bischof hinzutreten, sobald er käme. An jenem Tag stickte sie mit ihrer gewohnten Aufmerksamkeit und heiteren Buhe. Sie empfand keinerlei Aufregung, entschlossen in ihrem Willen und sicher, richtig zu handeln. Um vier Uhr sagte sie dann, sie wolle mal wieder bei Mutter Gabet mit vorbeigehen. Angezogen wie für ihre Besorgungen in der Nachbarschaft, auf dem Kopf nur einen Gartenhut, den sie auf gut Glück gebunden hatte, so ging sie davon. Sie wandte sich nach links, sie stieß den gepolsterten Türflügel des SanktAgnesTores auf, der dumpf hinter ihr wieder zufiel.
    Die Kirche war leer, allein in einem Beichtstuhl in der SanktJosephKapelle kniete noch eine Frau, von der man nur den schwarzen Bock hervorschauen sah; und Angélique, die bis dahin sehr ruhig gewesen, begann zu zittern, als sie in diese geheiligte, kalte Einsamkeit trat, in der das leise Geräusch ihrer Schritte ihr schrecklich widerzuhallen schien. Warum nur preßte sich ihr Herz so zusammen? Sie hatte sich so stark geglaubt, sie hatte einen so ruhigen Tag verbracht in dem Gedanken, daß es ihr gutes Recht sei, glücklich sein zu wollen! Und auf einmal wußte sie es nicht mehr, erbleichte sie wie eine Schuldige! Sie schlich bis zur HautecœurKapelle, sie mußte sich dort am Gitter festhalten.
    Diese Kapelle war eine der am tiefsten gelegenen, eine der dunkelsten der uralten romanischen Apsis. Sie glich einer in den Fels gehauenen Gruft, war eng und kahl, hatte ein niedriges Gewölbe mit einfachen Rippen und bekam Licht nur durch das Kirchenfenster mit der Legende vom heiligen Georg, in dem die vorherrschenden roten und blauen Scheiben ein violettes Dämmerlicht hervorriefen. Der Altar aus weißem und schwarzem Marmor glich mit seiner Schmucklosigkeit, mit seinem Kruzifix und seinem doppelten Leuchterpaar einer Grabstätte. Und die übrigen Wände waren von oben bis unten mit Grabsteinen verkleidet, ganz ausgelegt mit vom Alter zernagten Steinen, auf denen man noch tief eingemeißelte Lettern lesen konnte.
    Angélique bekam kaum Luft und wartete unbeweglich. Ein Kirchendiener ging vorbei, der sie nicht einmal sah, wie sie da an die Innenseite dieses Gitters gepreßt stand. Sie sah noch immer den Rock aus dem Beichtstuhl hervorschauen. Ihre Augen gewöhnten sich an das Halbdunkel, blieben gedankenlos an den Inschriften hängen, deren Buchstaben sie schließlich entzifferte. Namen fielen ihr auf, riefen die Sagen über die Burg Hautecœur in ihr wach, Johann V., der Große, Raoul III., Hervé VII. Sie stieß noch auf zwei andere, auf Laurette und Balbine, die sie in ihrer Verwirrung zu Tränen rührten. Es waren die Namen der Glücklichen Toten, Laurette, die von einem Mondstrahl herabgestürzt war, als sie zu ihrem Bräutigam ging, Balbine, durch die Freude über die Heimkehr ihres Gemahls, den sie im Kriege getötet glaubte, zu Boden gestreckt, die beide des Nachts wiederkamen und die Burgruine in den weißen Flug ihres unermeßlich weiten Gewandes hüllten. Hatte sie sie nicht an dem Tage ihres Besuches bei den Ruinen in der bleichen Asche der Abenddämmerung über den Türmen schweben sehen? Ach, wie gerne wäre sie wie jene gestorben, mit sechzehn Jahren, im Glück ihres Wirklichkeit gewordenen Traumes!
    Ein gewaltiger Lärm, der von den Gewölben zurückgeworfen wurde, ließ sie zusammenfahren. Es war der Priester, der aus dem Beichtstuhl der Sankt JosephKapelle heraustrat und der dessen Tür wieder schloß. Sie war überrascht, als sie die Frau nicht mehr sah, die wohl schon gegangen war. Als sich dann auch der Priester

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