Der Traum
sie so? Alles rief ihr ihre Liebe zu, die Kathedrale, die kühlen Wasser, die alten Ulmen, unter denen sie sich geliebt. Da ihre Liebe dort gewachsen war, wollte sie ihn sich dort wiederholen, um an seinem Halse zu fliehen, sehr weit fort, so weit, daß man sie nie mehr wiederfinden würde.
»Fertig«, sagte schließlich Mutter Gabet, die soeben die letzten Handtücher an einem Busch aufgehängt hatte. »In zwei Stunden wird alles trocken sein ... Recht guten Abend, Mademoiselle Angélique, Sie können ja jetzt doch nichts mehr mit mir anfangen.«
Angélique mußte jetzt, wie sie da mitten in diesem Erblühen von Wäschestücken stand, die strahlend auf dem grünen Gras lagen, an jenen anderen Tag denken, an dem sich ihre Herzen in dem starken Wind beim Klatschen der Laken und Tischtücher einander so unbefangen geschenkt hatten. Warum besuchte er sie nicht mehr? Warum kam er nicht zu diesem Stelldichein in der gesunden Fröhlichkeit der Wäsche? Doch sie wußte wohl, daß er nachher, wenn sie ihn in ihren Armen hielte, nur noch ihr allein gehören würde. Sie brauchte ihm nicht einmal seine Schwäche vorzuwerfen, es würde für ihn schon genügen, daß sie sich zeigte, damit er den Willen zu beider Glück wiederfand. Er würde alles wagen, sie brauchte nur einen Augenblick bei ihm zu sein.
Eine Stunde verstrich, und Angélique ging mit immer langsamer werdenden Schritten zwischen den Wäschestücken einher, war selber ganz weiß vom blendenden Widerschein der Sonne, und eine verworrene Stimme erhob sich in ihr, wurde stärker, hinderte sie, nach dort hinten zu dem Gitter zu gehen. Sie erschrak vor diesem Kampf, der nun beginnen sollte. Was denn? Es gab nicht nur ihren Willen in ihr? Etwas anderes, das man zweifellos in sie hineingesenkt hatte, stellte sich ihr entgegen, erschütterte die gute Einfachheit ihrer Leidenschaft. Es war so einfach, zu dem zu eilen, den man liebte; und sie konnte es schon nicht mehr, die Qual des Zweifels hielt sie fest: sie hatte geschworen, und außerdem wäre es vielleicht sehr vom Übel. Als am Abend die Wäsche trocken war und Hubertine kam, um ihr beim Hereintragen zu helfen, hatte sie noch keinen Entschluß gefaßt, wollte sie noch die Nacht verstreichen lassen, um zu überlegen. Die Arme schwer beladen mit diesen wohlriechenden, schneeigen Wäschestücken, warf sie einen unruhigen Blick auf den schon in Dämmerung getauchten ClosMarie, wie auf einen befreundeten Winkel der Natur, der nicht mitschuldig sein will.
Am nächsten Tag erwachte Angélique voller Unruhe. Weitere Nächte vergingen, ohne daß sie zu einem Entschluß kam. Sie fand ihre Ruhe nur in der Gewißheit wieder, geliebt zu werden. Diese Gewißheit war unerschütterlich geblieben, sie verließ sich darauf in göttlicher Weise. Da sie geliebt wurde, konnte sie warten, würde sie alles ertragen. Anwandlungen von Mildtätigkeit waren wieder über sie gekommen, das geringste Leid rührte sie, und ihre Augen waren tränenschwer bis zum Überfließen. Vater Mascart ließ sich Tabak schenken, die Chouteaus bettelten ihr sogar Eingemachtes ab. Doch vor allem die Lemballeuses nutzten die unverhoffte Gelegenheit aus, man hatte Tienette an den Festtagen in einem Kleid des guten Fräuleins tanzen sehen. Und da erblickte Angélique eines Tages, als sie der Mutter Lemballeuse Hemden bringen wollte, die sie ihr am Abend zuvor versprochen, schon von weitem Frau de Voincourt und ihre Tochter Claire in Begleitung Féliciens bei diesen Bettlerinnen. Sicher hatte er sie hingeführt. Sie zeigte sich nicht, sie kehrte mit erstarrtem Herzen wieder um. Zwei Tage später sah sie, wie alle drei die Behausung der Chouteaus betraten; dann erzählte ihr eines Morgens Vater Mascart, daß der schöne junge Mann ihn mit zwei Damen besucht habe. Da ließ sie ab von ihren armen Leuten, die doch nicht mehr ihr gehörten, weil Félicien sie ihr weggenommen und jenen Damen gegeben hatte. Sie ging nicht mehr aus dem Haus, weil sie fürchtete, diesen dreien zu begegnen, wieder den Stich ins Herz zu bekommen, dessen Schmerz sich jedesmal tiefer eingrub; und sie fühlte, daß etwas in ihr starb, ihr Leben verrann Tropfen um Tropfen.
Als sie nach einer dieser Begegnungen eines Abends allein in ihrem Zimmer war und schier vor Angst erstickte, entrang sich ihr der Aufschrei:
»Aber er liebt mich nicht mehr!«
Sie sah Claire de Voincourt wieder vor sich, groß, schön, mit ihrer Krone aus schwarzem Haar; und sie sah ihn wieder, schlank und stolz, ihn an
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