Der Traum
in ihr Verderben gehen. »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Und mitten in ihrem großen Bett lag sie auf Knien, war ganz klein und zart und fühlte, daß sie starb.
Bis jetzt war ihr jedesmal im Augenblick ihrer höchsten Not durch Kühle Erleichterung geworden. Es war die Gnade, die sich erbarmte, die in sie einging, um ihr ihre Illusion wiederzugeben. Sie sprang barfuß auf den Fliesenboden des Zimmers, sie lief geschwind zum Fenster; und dort hörte sie von neuem die Stimmen, unsichtbare Fittiche streiften ihr Haar, das Volk der »Legenda aurea« trat aus den Bäumen und den Steinen hervor, umgab sie in Scharen. Ihre Reinheit, ihre Güte, alles, was von ihr in den Dingen enthalten war, kam wieder zu ihr zurück und rettete sie. Von da an hatte sie keine Angst mehr, wußte sie sich behütet. Agnes war wieder zurückgekehrt in Begleitung der lieblichen Jungfrauen, die in der erschauernden Luft umherschwebten. Es war eine Ermutigung aus der Ferne, ein lang anhaltendes Siegesraunen, das mit dem nächtlichen Wind zu ihr drang. Eine Stunde lang atmete sie diese beruhigende Süße, zu Tode betrübt, bestärkt in ihrem Willen, lieber zu sterben, als ihren Schwur nicht zu hallen. Ganz gebrochen ging sie endlich wieder zu Bett, schlief wieder ein in der Furcht vor dem Schwächeanfall des nächsten Tages, noch immer gequält von dem Gedanken, daß sie schließlich erliegen würde, wenn sie solchermaßen von Mal zu Mal schwächer wurde.
Seit sie sich nicht mehr von Félicien geliebt glaubte, verlor sie tatsächlich jedes bißchen Kraft. Sie hatte den Lanzenstich in die Seite empfangen, der sie mit jeder Stunde still und ohne Klage dem Sterben näher brachte. Zunächst hatte es sich in Erschöpfungszuständen geäußert: Atemnot befiel sie, sie mußte ihren Faden loslassen, saß eine Minute lang mit glanzlosen, ins Leere blickenden Augen da. Dann hatte sie aufgehört zu essen, kaum daß sie ein paar Schlucke Milch zu sich nahm; und sie versteckte ihr Brot, warf es den Hühnern der Nachbarinnen vor, um ihre Eltern nicht zu beunruhigen. Ein herbeigerufener Arzt, der nichts feststellen konnte, gab dem allzu klösterlichen Leben die Schuld, begnügte sich damit, Bewegung zu empfehlen. Es war ein Verlöschen ihres ganzen Seins, ein langsames Dahinschwinden. Ihr Körper schwankte, als würde er von zwei großen Schwingen gewiegt, Licht schien von ihrem schmal gewordenen Antlitz auszugehen, in dem die Seele sich brennend verzehrte. Und es war so weit mit ihr gekommen, daß sie sich wankend mit beiden Händen an den Wänden der Treppe festhalten mußte, wenn sie aus ihrem Zimmer herunterkam. Doch sie blieb hartnäckig, gab sich tapfer, sowie sie sich beobachtet fühlte, wollte trotz allem die Stoffbahn mit der schweren Stickerei für den Bischofsthron zu Ende bringen. Ihre schmalen kleinen Hände hatten nicht mehr die Kraft, und wenn sie eine Nadel zerbrach, vermochte sie sie nicht mit der Zange herauszuziehen.
Eines Morgens nun, als Hubert und Hubertine, die aus dem Haus gehen mußten, sie bei der Arbeit allein gelassen hatten, fand der Sticker, der als erster heimkam, sie ohnmächtig auf den Fliesen liegen, sie war von ihrem Stuhl geglitten und vor dem Stickrahmen zu Boden gesunken. Sie war der übernommenen Aufgabe erlegen, einer der großen goldenen Engel blieb unvollendet. Fassungslos nahm Hubert sie in die Arme, bemühte sich, sie auf die Beine zu stellen. Doch sie sank zurück, sie erwachte nicht aus diesem Nichts.
»Mein Liebling, mein Liebling ... Antworte mir doch, um Gottes willen ...«
Endlich schlug sie die Augen auf, schaute ihn voller Trostlosigkeit an. Warum wollte er, daß sie lebte? Sie war so glücklich, tot zu sein!
»Was hast du, mein Liebling? Du hast uns also getäuscht, du liebst ihn also noch immer?«
Sie antwortete nicht, sie sah ihn mit einem Ausdruck unendlicher Traurigkeit an.
Da hob er sie verzweifelt auf und trug sie hinauf in ihr Zimmer; und als er sie so weiß, so schwach auf das Bett gelegt hatte, weinte er über die Grausamkeit, die er unbeabsichtigt begangen, weil er den Mann, den sie liebte, von ihr ferngehalten hatte.
»Ich, ich hätte ihn dir gegeben! Warum hast du mir nichts gesagt?«
Doch sie sprach nicht, ihre Lider schlossen sich wieder, und sie schien wieder einzuschlafen.
Er war stehengeblieben, die Augen auf ihr schmales Lilienantlitz geheftet, und sein Herz blutete vor Mitleid. Da sie sanft atmete, ging er dann hinunter, weil er seine Frau zurückkommen
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