Der Traum
der Seite der anderen. Waren sie nicht füreinander geschaffen, vom selben Geblüt, so gut zueinander passend, daß man sie schon für verheiratet halten konnte?
»Er liebt mich nicht mehr, er liebt mich nicht mehr!«
Das brach in ihr durch, als fiele etwas krachend in Trümmer. Da ihr Glaube erschüttert war, stürzte alles zusammen, ohne daß sie die Ruhe wiederfand, die Ereignisse zu prüfen, kühl abzuwägen. Gestern hatte sie noch geglaubt, jetzt glaubte sie nicht mehr: ein Hauch, von dem sie nicht wußte, woher er gekommen, hatte genügt; und mit einem Schlage war sie ins tiefste Elend gestürzt, ins Elend, sich nicht geliebt zu glauben. Félicien hatte es ihr einst gesagt: nicht geliebt zu werden, das war der einzige Schmerz, die entsetzliche Qual. Bis jetzt hatte sie sich in ihr Los schicken können und auf das Wunder gewartet. Doch ihre Kraft war mit dem Glauben dahingeschwunden, sie stürzte in kindliche Ängste. Und der schmerzliche Kampf begann.
Zunächst nahm sie Zuflucht zu ihrer Hoffart: um so besser, wenn er sie nicht mehr liebte! Denn sie war zu stolz, um ihn noch zu lieben. Und sie log sich selber etwas vor, sie tat so, als fühle sie sich befreit, als singe sie vor Sorglosigkeit leise vor sich hin, während sie am Wappen der Hautecœurs stickte. Doch das Herz war ihr zum Ersticken schwer, sie schämte sich, sich einzugestehen, daß sie feige genug war, ihn noch immer zu lieben, ihn nur noch mehr zu lieben. Eine Woche lang erfüllte sie das Wappen, das Faden um Faden unter ihren Fingern entstand, mit entsetzlichem Kummer. Es war in vier Felder geteilt, Feld eins und vier das Wappen von Jerusalem, Feld zwei und drei das Wappen von Hautecœur; das Wappen von Jerusalem in Silber mit dem goldenen Krückenkreuz, verziert mit vier ebenfalls goldenen kleinen Kreuzen; das Wappen von Hautecœur in Blau mit der goldenen Festung, mit einem kleinen Wappenschild in Schwarz mit silbernem Herzen an der Herzstelle, das Ganze begleitet von drei goldenen Lilienblüten, zwei im Schildhaupt, eine im Schildfuß. Die Farben wurden aus Seidenschnürchen gestickt, die Metalle aus Gold und Silberfäden. Was für ein Elend, zu fühlen, wie die Hand zitterte, den Kopf senken zu müssen, um ihre Augen zu verbergen, die das Flammen dieses Wappens vor Tränen blind machte! Sie dachte nur an ihn, sie betete ihn an im Glanz seines berühmten Adels. Und als sie den Wahlspruch »So Gott will, so will auch ich« in schwarzer Seide auf einen silbernen Wimpel stickte, wurde ihr klar, daß sie seine Sklavin war, daß sie für immer sein eigen war: ihre Tränen hinderten sie am Sehen, während sie mechanisch fortfuhr, die Nadel durchzustechen.
Es war zum Erbarmen, Angélique liebte voller Verzweiflung, zermürbte sich in dieser hoffnungslosen Liebe, die sie nicht zu töten vermochte. Immer wieder wollte sie zu Félicien eilen, sich ihm an den Hals werfen, um ihn zurückzuerobern; und immer wieder begann der Kampf von neuem. Zuweilen glaubte sie, gesiegt zu haben, es entstand eine große Stille in ihr, es schien ihr, als sähe sie sich als eine Fremde, ganz klein, ganz kalt, als gehorsame Tochter in der Demut der Entsagung auf den Knien: das war nicht mehr sie, das war das vernünftige Mädchen, zu dem sie wurde, das Umgebung und Erziehung geschaffen hatten. Dann stieg ihr eine Blutwoge zu Kopfe, machte sie benommen; ihre schöne Gesundheit, ihre feurige Jugend galoppierten gleich durchgegangenen Rossen dahin; und sie fand sich mit ihrer Hoffart und ihrer Leidenschaft wieder, ganz dem ungestümen Unbekannten ihrer Herkunft verhaftet. Weshalb hätte sie denn gehorchen sollen? Es gab keine Pflicht, es gab nur den freien Willen. Schon bereitete sie ihre Flucht vor, rechnete sich die geeignete Stunde aus, um das Gittertor des bischöflichen Gartens aufzubrechen. Doch schon kehrte auch die Angst zurück, ein dumpfes Unbehagen, die Qual des Zweifels. Wenn sie dem Bösen nachgab, würde sie ewig Gewissensbisse haben. Stunden, entsetzliche Stunden verstrichen in dieser Ungewißheit, in der sie sich zu nichts entschließen konnte, in diesem Wirbelsturm, der sie unaufhörlich zwischen der Auflehnung ihrer Liebe und dem Entsetzen vor der Sünde hin und her warf. Und sie ging aus jedem Sieg über ihr Herz geschwächter hervor.
Eines Abends, als sie gerade das Haus verlassen wollte, um zu Félicien zu gehen, fiel ihr in ihrer höchsten Not, da sie nicht mehr die Kraft fand, ihrer Leidenschaft zu widerstehen, unvermittelt ihr Zöglingsbuch ein.
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