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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Sie nahm es aus der Tiefe der Truhe, blätterte darin, hielt sich selbst bei jeder Seite die Niedrigkeit ihrer Geburt vor, dürstete in einem glühenden Verlangen nach Demütigung. Vater und Mutter unbekannt, kein Name, nichts als ein Datum und eine Nummer, verlassen wie eine wilde Pflanze, die am Wegrand wächst! Und die Erinnerungen erhoben sich in Mengen, die fetten Weiden an der Nièvre, das Vieh, das sie dort gehütet, die ebene Landstraße von Soulanges, auf der sie barfuß gegangen war, Mama Nini, die sie ohrfeigte, wenn sie Äpfel stahl. Einige Seiten des Büchleins vor allem riefen ihre Erinnerung wach, jene Seiten, auf denen alle drei Monate die Besuche des Unterinspektors und des Arztes bestätigt waren, Unterschriften, zuweilen von Bemerkungen oder Hinweisen begleitet: eine Krankheit, an der sie beinahe gestorben wäre, eine Forderung ihrer Pflegemutter wegen verbrannter Schuhe, schlechte Noten wegen ihres unbezähmbaren Charakters. Es war das Tagebuch ihres Elends. Doch ein Aktenstück ließ sie zuletzt in Tränen ausbrechen, das Protokoll, welches das Abnehmen des Halsbandes bestätigte, das sie bis zu ihrem sechsten Lebensjahr getragen. Sie erinnerte sich, daß sie es instinktiv verabscheut hatte, dieses Halsband aus knöchernen, auf eine Seidenschnur gezogenen Oliven, das von einer silbernen Marke geschlossen wurde, auf der das Datum ihrer Einlieferung und ihre Nummer standen. Sie ahnte, daß es ein Sklavenhalsband war, sie hätte es mit ihren kleinen Händen zerrissen, wenn sie nicht vor den Folgen zurückgeschreckt wäre. Als sie älter wurde, hatte sie sich dann beklagt, es würge sie ab. Noch ein Jahr lang hatte man es ihr umgelassen. Welche Freude daher, als der Unterinspektor in Gegenwart des Bürgermeisters der Gemeinde die Schnur durchschnitten hatte und dieses Kennzeichen durch eine förmliche Personenbeschreibung ersetzte, in der bereits ihre veilchenfarbenen Augen und ihr feines goldenes Haar angegeben waren! Und doch fühlte sie dieses Band immer noch an ihrem Halse, dieses Halsband eines Haustieres, das man zeichnet, um es wiederzuerkennen: es haftete in ihrem Fleisch, sie rang nach Luft. An jenem Tag stieg bei dieser Seite die schreckliche Erniedrigung wieder in ihr auf, veranlaßte sie, schluchzend in ihr Zimmer hinaufzugehen, unwürdig, geliebt zu werden. Noch zweimal rettete das Büchlein sie. Hernach war selbst dieses Büchlein machtlos gegen ihre Auflehnung.
    Jetzt peinigten die Anfälle der Versuchung sie des Nachts. Bevor sie zu Bett ging, zwang sie sich, wieder in der »Legenda aurea« zu lesen, um ihren Schlaf zu läutern. Doch die Stirn in die Hände gestützt, begriff sie trotz aller Anstrengung nichts mehr: die Wunder betäubten sie, sie nahm nichts wahr als eine farblose Flucht von Schemen. Dann fuhr sie in ihrem großen Bett aus bleischwerem, ohnmachtähnlichem Schlaf in jähem Angstgefühl inmitten der Finsternis hoch. Verstört richtete sie sich auf, kniete sich zwischen die zurückgeworfenen Bettücher, Schweiß stand ihr an den Schläfen, und ein Schauer durchschüttelte sie; und sie faltete die Hände, und sie stammelte: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Denn ihre größte Angst war es, sich in diesen Augenblicken in der Dunkelheit allein zu fühlen. Sie hatte von Félicien geträumt, sie fürchtete, daß sie sich anziehen, daß sie zu ihm gehen würde und daß niemand da wäre, sie daran zu hindern. Die Gnade entzog sich ihr, Gott war nicht mehr um sie, alles rings um sie ließ sie im Stich. Verzweifelt rief sie das Unbekannte an, lauschte sie dem Unsichtbaren. Und die Luft war leer, keine flüsternden Stimmen, kein geheimnisvolles Gestreiftwerden mehr. Alles schien tot: der ClosMarie mit dem Chevrotte Bach, die Weiden, das Gras, die Ulmen des bischöflichen Gartens und die Kathedrale selber. Nichts blieb von den Träumen, die sie da hineingelegt hatte, der weiße Flug der Jungfrauen ließ im Dahinschwinden nichts weiter zurück als das Grab. In ihrer Ohnmacht rang sie mit dem Tode, wehrlos gleich einer Christin der Urkirche, welche die Erbsünde zu Boden wirft, sowie der Beistand des Übernatürlichen aufhört. In dem düsteren Schweigen dieses schützenden Winkels hörte sie, wie dieses Erbe des Bösen wiedererstand und aufheulte und über ihre Erziehung triumphierte. Wenn ihr noch zwei Minuten lang keine Hilfe von den unbekannten Mächten kam, wenn die Dinge nicht erwachten und ihr nicht beistanden, würde sie sicherlich erliegen, würde sie

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