Der Traummann aus der Zukunft (German Edition)
abwechselnd Traumfantasien und Alpträume. Die Alpträume schienen jedoch häufiger zu sein und kamen immer kurz vor dem Aufwachen. Zum Beispiel, dass Emilia taub war und Miguel stumm und sie sich deshalb kaum verständigen konnten. Oder dass ein betörender Lärm um sie war, sodass sie kein Wort des Anderen verstanden, obwohl sie sich anschrien. Oder das Emilia beobachtete, wie Miguel sich in Todesgefahr begab, aber nicht die geringste Chance bestand, ihn zu warnen. Aus diesen Träumen wachte Emilia schweißgebadet auf. Damit musste endlich Schluss sein. Emilia musste Ordnung in alles bringen. Und sie würde rausgehen, dass hatte sie Jo versprochen.
Emilia duschte und zog sich frische Unterwäsche an. Dann nahm sie ihre Kleider aus dem Schrank, erst das rote, dann das olivgrüne, dann das blaue. Sie legte sie vor sich hin und sah sie an. Das Rote war für Miguel, aber Bernhard hatte es im Wald beschmutzt. Das Olivgrüne war voller Lügen. Und das Blaue hatte ihr nur Pech gebracht. Das Blaue war wie Luft. Nie hatte Miguel sie darin wahrgenommen. Kurz entschlossen ging Emilia in die Küche und holte eine Schere. Sie war groß und scharf. Emilia hatte sie von Ikea mitgenommen. Sie setzte sich auf den Boden und zerschnitt die Kleider in lauter kleine Teile. Mal schnitt sie ein Stück rot aus, dann ein Stück grün und dann wieder blau. Zusammen ergaben die Stoff-Fetzen bald einen bunten Haufen.
Etwas fehlte noch. Natürlich. Der fliederfarbene Rock und die weiße Bluse. Emilia riss die Sachen kurzerhand aus dem Schrank. Rüschen. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, etwas mit Rüschen zu kaufen? Sowas hatte sie früher nicht mal ihren Puppen angezogen. In kleinen Fetzen flog der weiße Rüschensaum wie Schnee auf den bunten Haufen. Die Bluse ließ sie ganz und stopfte sie in den Spülschrank. Irgendwann würde sie einen guten Wischlappen ergeben.
Emilia ließ den Kleiderhaufen mitten im Wohnzimmer liegen. Sie zog sich ihren Bademantel über und schlüpfte in ein paar Clogs. Sie betrachtete sich kurz im Spiegel. Der Bademantel war aus dünnem weißem Frottee und ging ihr bis zu den Knien. Er sah doch auch fast aus wie ein Kleid. Emilia steckte sich einen zwanzig Euro-Schein, ein bisschen Kleingeld und den Hausschlüssel in die Tasche. Als sie die Wohnung mittags auf unsicheren Beinen verließ, hatte sie bereits schon wieder eine halbe Flasche Wein getrunken.
Emilia überlegte, ob sie die Straßenbahn nehmen sollte, aber da hätten die Leute zu viel Zeit sie anzustarren. Also ging sie zu Fuß. Der Spaziergang dauerte sogar nur eine Stunde. Dann war sie bei der Bank im Schlosspark angelangt, auf der sie mit Hilda und den Kindern an einem verregneten Maitag Pizza gegessen hatte, während ihr zum allerersten Mal Miguel über den Weg gelaufen war. Das alles kam ihr so vor, als wäre es vor hundert Jahren passiert. Emilia setzte sich hin und sah hinauf in die Bäume, deren Blätter jetzt ganz bunt waren. Sie saß einfach nur da. Zwischendurch kaufte sie sich am Imbissstand einen Kaffee im Plastikbecher und kehrte damit wieder zu der Bank zurück. Und sie hatte Glück.
Am späten Nachmittag kreuzte Miguel mit der kleinen Linde auf, die sofort auf das Klettergerüst stürmte. Der Anblick war so vertraut, so, als hätte Emilia ihre Familie wiedergefunden, die sie vor langer Zeit verloren hatte. Miguel saß am anderen Ende des Spielplatzes und las Zeitung. Emilia beobachtete ihn einfach nur. Sie würde nicht hinübergehen. Wozu auch. Sie konnten ja auch so zusammen sein. Einfach hier, den Spielplatz zwischen sich, mit Linde. Die Welt drehte sich im Kreis. Es war nicht klar, ob das vom Alkohol kam oder nicht. Jedenfalls spürte Emilia in diesem Moment einen tiefen inneren Frieden.
Sie schrak hoch, als in ihren leeren Plastikbecher, den sie in den Händen auf dem Schoß hielt, geräuschvoll etwas Schweres hineinfiel. Emilia lag halb auf der Bank. Sie musste eingenickt sein. Sie sah, wie Linde sich rennend über den Spielsand entfernte. Miguel wartete schon am Parkausgang. Er nahm sie an die Hand und sie verließen den Spielplatz. Linde hatte Emilia einige Münzen in den Becher geworfen. Sie hatten sie für eine Pennerin gehalten.
Ein Auto quietschte und kam neben Emilia mit einem Reifen bereits auf der Bürgersteigkante zum Stehen. Die Beifahrertür flog auf.
„Einsteigen, sofort!“, brüllte Hilda und beugte sich auf den Beifahrersitz rüber, um Augenkontakt mit Emilia herzustellen. Emilia war fast Zuhause. Sie
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