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Der Tribun

Der Tribun

Titel: Der Tribun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Kammerer
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unter dem verrutschten Schleier, bevor sie die Stirn wieder auf die Knie legte, die sie mit den Armen fest umschlungen hatte.
    Behutsam berührte er ihre Schulter. Ihr weißes Gesicht schnellte empor, die Augen glänzend, die Lider geschwollen und dunkel. Erschrocken fiel er auf die Knie und griff nach ihren Armen. Als er ihren Körper an sich zog, brach ein tonloser Schrei aus ihr hervor. Er spürte ihr Gewicht, als sie gegen ihn sank, spürte ihren Kopf an seiner Schulter, das trockene Schluchzen, ihre Fäuste, die eine Mauer zwischen ihnen bildeten. Sie verschluckte sich, wimmerte leise, und unterdrückte vergeblich das Glucksen. Ratlos strich er über ihr Haar und barg sie wie ein verängstigtes Kind. Er wusste, dass sie an der bevorstehenden Hochzeit mit Daguvalda verzweifelte, aber was half es, wenn sie nur den anderen verabscheute?
    Er hob ihr Gesicht aus den Falten des Mantels, legte seine Hände darum und wischte mit den Daumen sacht die Tränen weg. Stumm sah sie ihn an, die Augen matt und gerötet. Er beugte sich über sie, berührte mit seinen Lippen ihre spröden, ohne Gegenwehr zu bemerken. Drückte seinen Mund auf ihren. Einmal. Zweimal. Ohne dass sich ihre Lippen trennten. Dreimal. In wachsamer Reglosigkeit bot sie ihm ihr Gesicht, ohne einen einzigen wenigstens halbherzigen Versuch, ihn von sich zu stoßen.
    Langsam schob er seine Hände um ihren Nacken und erkannte im nächtlichen Schimmer auf ihren blassen Zügen ein mattes Lächeln. Die widerspenstige Locke, die sich über ihre Stirn ringelte, schob er unter die Kapuze. Dann zog er ihren Kopf wieder an seine Schulter, sein Arm umhüllte sie mit dem Mantel und schloss sie darin ein. Er schmiegte die Wange an ihr Haar, lauschte ihrem Atem, atmete ihren Duft, badete in ihrer Wärme, und so verharrten sie stumm in der kühlen Dunkelheit.
    Vom Hof tönten Stimmen herüber. Sunja schrak auf, und in ihren Augen glitzerte Furcht, doch er hielt sie fest, seine Fingerspitzen glitten leicht über ihr Gesicht, um auf ihren Lippen zu verharren.
    »Keine Angst, sie sind völlig betrunken«, flüsterte er. »Geh zur Linde hinüber. Dort vermuten sie dich am ehesten.«
    Ihre Augen flackerten. »Was wirst du tun?«
    »Warten.« Unter seinen Lippen spürte er ihren angespannten Kiefermuskel. »Sie werden denken, ich bin bei Reika – und morgen haben sie dank Bacchus alles vergessen.«
    Auf ihren Zügen stritten Angst und Wut, Eifersucht, die sie stumm machte, während ihre Blicke ihn bald schalten, bald anflehten.
    »Ich werde nicht zu ihr gehen, das verspreche ich. Und jetzt lauf, ehe sie sich auf der Suche nach dir den Hals brechen.«
    Er erhob sich langsam, und half ihr sich aufzurichten, als jemand in der Ferne ihren Namen rief. Ungestüm warf sie die Arme um ihn, verschränkte ihre Hände in seinem Nacken und presste ihre Lippen auf seine. Ihr Mund öffnete sich, die Anspannung entlud sich in einem Schluchzen, dann riss sie sich los und hastete durchs Gebüsch davon.
    Sie hatte sich in dem Netz verfangen, das er ausgelegt hatte.
    *
    Schon am folgenden Morgen war Sunja wie verwandelt, erschien aufgeräumt und fröhlich. Als ihr Verlobter abreiste, ließ sie sich von ihm umarmen und auf beide Wangen küssen, winkte mit einem Lächeln, bis er durch das Tor verschwand, und hatte nichts Eiligeres zu tun, als sich mit Saldir auf die Gartenbank zu setzen, um der kleinen Schwester eine vergebliche Lektion im Brettchenweben zu erteilen. Saldir kauerte stirnrunzelnd auf einem Kissen und zerrte an den Fäden. Anstatt auf Sunjas Hände zu achten, warf sie finstere Blicke zur Koppel, wo Inguiomers seine Runden auf Cheimon drehte und lernte, wie er ein Pferd zum Steigen brachte, ohne selbst herunterzufallen oder den Stecken zu verlieren, den er anstelle einer Waffe in der Rechten hielt.
    Cinna erkannte die Gelegenheit, die Sunja ihm bot, und hieß Inguiomers den schäumenden Fuchs trockenreiben. Er überquerte den Hof, um neben Saldir in die Hocke zu gehen und sie nach ihren Fortschritten mit Vergilius zu fragen. Ihr spitzes kleines Gesicht verfinsterte sich – sie hasste es, die ihr ungewohnten Verse auswendig zu lernen –, und sie war nicht zu einer Antwort zu bewegen, sondern schmollte mit beharrlich gesenktem Kopf, so dass Cinna sich unbemerkt Sunja zuwenden konnte.
    Ihre Hände, die mit der Webarbeit hin und her flogen, sanken in ihren Schoß, und sie erwiderte das Lächeln, wobei ihre Ohren auf eine überaus reizende Weise rot anliefen. Langsam senkte er die Lider,

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