Der Tribun
Pflege zu geben, bevor er mit staksigen Schritten zu Segestes trat, um ihm vor allen anderen die schuldigen Ehren zu erweisen. Indes war Saldir, die Knabenkleider trug und ihre Zöpfe unter der Kapuze versteckt hatte, auf der zierlichen mausbraunen Stute sitzen geblieben und winkte Cinna so lange zu, bis er sich allen guten Sitten zum Trotz zu ihr bewegte. Sie krampfte die Finger um die Zügel und ein Büschel der dunklen Stehmähne, während sie auf ihn herabblickte.
»Du bist jetzt mein Schwager, nicht wahr?«
»Wie kommst du darauf?«
»Mutter erzählte uns von dem Eid, den sie dir abgenommen hat. Sie sagte, du habest nicht gezögert, zu schwören, was jeder Bräutigam schwören muss, ehe die Braut die Seine wird.«
»Der Eid …?« Cinna spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.
»Und sie sagte, als du sie auf deiner Flucht mit dir nahmst, da habest du nicht nur dich selbst, sondern uns alle gerettet. Also bist du nun wirklich ein Bruder für mich, nicht wahr?« Als er zerstreut nickte, setzte sie hinzu: »Dann möchte ich, dass du mir hilfst abzusteigen.«
Vorsichtig nahm er sie um die Mitte und stützte sie, während sie ein Bein über den Widerrist schwang, um hinunterzurutschen, so dass sie sicher in seinen Armen landete.
»Wenn ich dein Schwager bin, dann muss ich dir zur Begrüßung einen Kuss geben, ist das richtig?«
Sie war einen Atemzug lang still, lief rot an, und presste die Lippen fest aufeinander; dann bot sie ihm ihre Wange. Er schob ihre Kapuze zurück, hielt ihren Kopf fest und küsste sie auf die Stirn, bis sie sich losriss.
»Du kratzt schlimmer als Papa!«, rief sie und rannte zu ihren Brüdern.
Ihre zweite gemeinsame Nacht würde in Cinnas Gedächtnis aufbewahrt bleiben. Diesmal wollte er ihre Augen sehen, umschloss ihre Wangen mit den Händen, als sie sich abzuwenden, sich an ihn zu schmiegen versuchte. Je behutsamer er war, je zärtlicher, umso tiefer schien sich das unsichtbare Geschoss durch sein Genick tief in die Brust zu bohren. Mit dem Herzschlag raste der Verstand, jede noch so feine, jede auch nur zufällige Berührung entfachte winzige Feuer, sträubte die Härchen am ganzen Körper, als wären sie Gefieder. Als sie seinen Blick erwiderte, zuerst verwundert, dann lächelnd, ließ der Wunsch, sich völlig auszuliefern, jede Faser in ihm erlahmen, und seine Arme glitten von ihr ab. Die Waffen zu strecken, war sinnlos geworden, in der Umschlingung hatte sie sich diese bereits angeeignet, und mit jeder ihrer Bewegungen, jedem hingeflüsterten Wort, mit jedem Hauch, der ihn streifte, bemächtigte sie sich seiner, Fingerbreit um Fingerbreit.
Allmählich errang er wieder Macht über seine Sinne, fand sich schweißüberströmt in ihren Armen, Haut an Haut, und ihre Ruhe ließ sein Zittern verebben, bis die Stille nur noch vom Knistern der glimmenden Scheite und ihrer beider Atemzüge durchwoben wurde. Er hatte nicht das Bedürfnis zu reden, blieb einfach liegen, die Arme kraftlos neben sich. Er hatte sie in Besitz nehmen wollen, und war dabei ihr anheim gefallen.
»Du frierst …?«, flüsterte sie und schmiegte sich enger an ihn, als wäre das noch möglich gewesen, zog eine Decke über ihn und rieb die Gänsehaut von seinen Schultern. Ihr Körper schien seinen Rücken zu umschließen, ihn vollkommen zu bedecken, doch weder schrak er zusammen, noch krampften sich die Muskeln, bis sich die Wirbelsäule krümmte; er lag einfach still, umhüllt von ihrer Wärme, während die Erinnerung an ihre gemeinsame Flucht sich vor ihm abspulte wie ein neu gesponnener Faden, der auf ein Knäuel gewickelt wird. Ihre angstgeweiteten Augen auf der Versammlung, als sie Saldir tröstend an sich drückte, und der leise Aufschrei, als er nach ihrem Arm gegriffen hatte. Das Gefühl ihrer Hand in seiner, als man sie wegbrachte. Er hatte befürchtet, das feine Gewebe ihrer Haut könne unter seinen Händen und Lippen schmelzen, sich in Gras und Blüten verwandeln, zerdrücktes zartes Grün. Unmöglich sich vorzustellen, nie mehr ihr Gesicht zu sehen, nie mehr ihre Stimme zu hören, den Duft ihres Haares zu atmen, den Hauch von Salz von ihrer Haut zu küssen oder ihre Wärme unter den Fingerspitzen zu fühlen.
Es hatte Tage gegeben – und Nächte –, nach denen er den Leibern, die ihn umgarnt und verstrickt hatten, gar nicht schnell genug hatte entkommen können. Und einen Freund, den ersten wirklichen Vertrauten, dem er eine Reihe unbeschwerter Monate verdankte, nicht ahnend, dass dieser
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