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Der Tribun

Der Tribun

Titel: Der Tribun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Kammerer
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festgekrallt hatten, grün mit weißen Beeren. Misteln. Cinna brachte das Zugpferd zum Stehen. Noch immer verharrte Sunja, wo er sie zurückgelassen hatte, und hielt nach ihrem saumseligen Bruder Ausschau. Eilends kletterte Cinna auf den Karren, stellte einen Fuß in die unterste Astgabel des nächststehenden Apfelbaums, und reckte sich nach einem Frucht tragenden Mistelzweig. Hinter ihm ertönten schnelle Schritte und ein unterdrückter Ruf. Er erreichte mühsam den äußersten Zipfel eines der Büschel voll paariger weißer Beeren, zog ihn näher und pflückte einen Zweig von diesem letzten Grün des Winters.
    »Was machst du da? Was soll das?«, schimpfte Sunja, und als er nicht antwortete, sie nicht beachtete: »Komm sofort herunter!«
    Flugs sprang er vom Wagen, um ihr den winzigen Zweig zu reichen, und seine Lippen umspielte ein verschwörerisches Lächeln. Sie wollte sich umdrehen, doch er hielt sie fest, befestigte den Zweig an ihrer Mantelfibel und legte einen Finger auf die Lippen, um verständlich zu machen, dass dieses kleine Geschenk ein Geheimnis bleiben sollte. Unversehens stob sie davon, umrundete das Pferd und blieb erst in der Sicherheit stehen, die das zwischen ihnen stehende Tier bot.
    »Ich schulde dir Dank«, sagte er leise, ohne sie anzusehen.
    Sie schwieg, und er wusste, dass sie keinen weiteren Schritt tun würde, bis Hraban und Swintha zu ihnen aufgeschlossen hätten.
    Er rückte das Zaumzeug zurecht und strich dem Pferd über die Nase. Ihre Aufmerksamkeit fühlte er wie eine warme Berührung. Langsam drehte er sich um, bemerkte, dass sie hastig den Kopf senkte, beide Arme vor der Brust verschränkt. Wieder sah sie ihn an mit einem Ausdruck, den er kannte, betont gelassen und ein wenig starr, die Augen schimmernd. Er beherrschte dieses Spiel gut, die Andeutung eines Lächelns, ein flüchtig hingeworfener Blick, während er den Sitz des Geschirrs überprüfte. Langsam strich seine Hand über die Brust des Pferdes, tätschelte sanft den Hals, ordnete die Mähne. Da sie sich nicht von der Stelle rührte, kam er ihr mit jeder Bewegung näher, scheinbar unbeabsichtigt, zufällig. Als er an ihr vorüberging, so dicht, dass er sie leicht streifte, fuhr sie zusammen. Er zog die Riemen um den Leib des Pferdes nach und berührte dabei fast ihre Arme.
    Er hielt inne, wandte sich ab und brachte einige Schritte Abstand zwischen sie und sich selbst. Sein pochendes Herz warnte ihn, dass er Gefahr lief, sich in dieses Mädchen zu verlieben, doch sich ihr zu nähern, bedeutete den sicheren Tod. Wie konnte er erwarten, dass sie ihn erhören würde? Die ungeschriebenen Gesetze der Barbaren waren nicht minder streng als die Zwölf Tafeln, und sie würde ihr Leben nicht aufs Spiel setzen. Dennoch – er warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter – war sie ein ausnehmend schönes Mädchen, und der Gedanke, ein anderer, irgendein anderer würde sie heimführen, rann wie eine ätzende Flüssigkeit in seine Brust.
    Hufschlag näherte sich. Hrabans Fuchs erschien an der Wegbiegung, auf seinem Rücken hielt Hraban Swintha fest im Arm und grinste zufrieden.
    »Warum habt ihr gewartet? Ihr könntet längst zu Hause sein.«
     
    Die Mädchen saßen auf dem Karren, Sunja kämmte der Magd das Haar und wand es zu einem dicken braunen Knoten. Cinna ging neben dem stämmigen Zugpferd und unterdrückte den Wunsch, sich nach ihr umzuschauen. Sie war eine von den Stolzen, aber keine uneinnehmbare Festung. Dieser Narr, der sein Heil in einem Bronzereif um den Hals suchte, hatte wohl die erste süße Wunde geschlagen und eine Lücke hinterlassen, die Eltern, Brüder und Schwes ter nicht würden füllen können. Cinnas Finger krampften sich um die Leine. In einer anderen Welt wäre es ein fröhliches, ein harmloses Spiel, harmlos wie das Lied, das die beiden Mädchen sangen, eine eingängige Weise, die mit jeder Strophe einen Vers länger wurde. Sie besangen ein Mädchen, das auf der Suche nach seinem Liebsten die Tiere des Waldes befragte, von jedem eine andere Antwort erhielt und nie zum Ziel kam. Leise summte er mit, verhaspelte sich, lauschte dem Gekicher, in das das dumme Lied schließlich überging und freute sich auf die Wärme des Herdfeuers und ein verspätetes Abendessen.
    *
    Von Tag zu Tag hatte die Sonne an Höhe verloren, bis sie nur noch flach über die südlichen Kuppen glitt. Der Mond wuchs und verging, und Raureif bildete Reihen bleicher Zähnchen an den verdorrenden und erfrierenden Grashalmen, bis eines

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