Der Triumph der Heilerin.indd
ihm quietschte ein Fensterladen. Er trat einen Schritt zurück und blickte hoch. Das Licht reichte gerade aus, damit er ihr Gesicht erkennen konnte.
»Leif?« Der Schrecken über die fremde Stimme draußen in der Nacht ebbte ab und machte einem Gefühl von Schuld Platz. Aber das war nichts Ungewöhnliches, sie träumte wieder. Anne sah oft Leifs Gesicht im Traum. Bald würde sie aufwachen und sich dem Albtraum ihres wirklichen Lebens stellen müssen.
Der Mann unter ihrem Fenster lächelte. »Ja, Lady. Nur keine Angst. Lasst Ihr mich ein?«
Anne schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können, und sie spürte das kalte Eisen des Fensterriegels, als sei es das erste Mal, und sie sah ihren Atem, der in Wölkchen in die stille Nacht hinausschwebte. Es war kein Traum. Sie war wach. Leif war wirklich da. »Ja. Natürlich. Bleibt, wo Ihr seid!«
Leif sah zu der Frau hoch, deren Gesicht ihn in all den langen Monaten im Norden nicht losgelassen hatte. Das schwache Sternenlicht fing die Umrisse ihres Gesichts ein und ließ die Rundung einer ihrer Schultern erkennen, als sie sich nach vorn beugte, um den Laden aufzustoßen - dabei duckte sie sich vorsichtshalber ein wenig hinter den Fenstersims, damit er nicht sähe, dass sie nackt war. Ihr Haar war offen wie bei einem Kind.
Leif schluckte. Anne war am Leben. Und anscheinend unverletzt. Der winzige Hammer um seinen Hals fühlte sich warm an, als er ihn berührte und seinem Kriegsgott für diese unerwartete Gnade dankte.
»Ja, Lady. Ich warte.« Er sprach leise. Er würde immer auf sie warten.
Anne nickte, zog den Fensterladen möglichst geräuschlos zu, um Deborah oder den Kleinen nicht zu wecken, und huschte ins Zimmer zurück. Zitternd tapste sie zu ihrem Bett und tastete sich im Dunkeln an der Wand entlang, bis sie ihr Kleid, die Unterkleider und den Schal gefunden hatte. Das musste genügen. Ihre Füße waren kalt, aber barfüßig konnte sie leiser durch das schlafende Haus schleichen .
Einen Augenblick später schob Anne die drei dicken Riegel der Küchentür zurück und öffnete die Tür.
»Lady Anne.« Leif verbeugte sich und duckte sich unter den Türsturz. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber als sie antworten wollte, bebte ihre Stimme.
»Willkommen in meinem Haus, Leif. Herzlich willkommen. Ich werde ein Licht anzünden, damit wir uns sehen können.«
Leif beobachtete, wie Anne den Docht einer irdenen Öllampe anzünden wollte. Nach drei Versuchen nahm er ihr den Feuerstein aus der Hand, und gleich darauf flammte ein helles Licht auf. »Setzt Euch, Lady. Auf die Ofenbank. Ich werde das Feuer wieder anfachen. Es ist kalt hier.«
Anne nickte und setzte sich, und Leif griff nach dem großen Schürhaken, stocherte entschlossen in der Asche herum und pustete kräftig, bis er noch glühende Kohlen fand. Er legte etwas Stroh und ein paar Zweige nach, und bald verbreitete sich eine wohlige Wärme, und ein rosiger Feuerschein verwandelte die Küche, brachte Kupferpfannen zum Glitzern und schmückte die Zinnteller auf den Regalen mit einem goldenen Rand. Ein Ort der Geborgenheit, der Vertrautheit - in seiner schlichten Zweckmäßigkeit ein schöner Ort.
Anne bemerktejedoch nichts von alledem, denn Scham, Freude und Verwirrung stürzten gleichermaßen auf sie ein. Sie hatte kein Recht auf seine Freundlichkeit, und sie wollte seine Gefühle für sie nicht ausnutzen. Das durfte sie nicht, denn Edward Plantagenet war immer noch ein machtvoller Teil ihres Lebens.
Leif drehte sich lächelnd zu ihr um. »Ist auf der Ofenbank noch Platz für mich?«
Anne fand endlich Worte, wenigstens für einfache Dinge. »Ja, ja, natürlich. Es ist spät, bestimmt seid Ihr hungrig. Seid Ihr hungrig, Leif?« Sie hörte sich plappern wie eine Närrin! Gegen solche Narrheit halfen nur Taten.
Sie sprang auf, kaum dass er sich gesetzt hatte, und eilte zu dem dreibeinigen Topf, der über dem Feuer hing. Er war halb gefüllt mit einer nahrhaften Brühe, die aus Knochen, Fleischresten und den Resten von Wurzelgemüse gekocht war. Diese Suppe war der Mittelpunkt von Annes Küche. Jeden Abend wurde Gerste und ein wenig wilder Knoblauch hinzugefügt, dann die Glut hoch aufgeschichtet, so dass die Brühe über Nacht köchelte und zum Frühstück fertig war.
Anne hob den schweren Deckel hoch, tunkte eine Kelle ein und schöpfte die dicke, schmackhafte Suppe in eine Holzschale. Dann trug sie sie zu Leif hinüber, wobei ihr, fast erschreckend, wieder einmal auffiel, wie groß er war.
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