Der Triumph der Heilerin.indd
gesehen hatte. Verwundert riss er die Augen auf. »Zeig her.« Sie legte den Schlüssel in seine
Hände, der Schaft war größer als beide Handflächen zusammen. Es war ein alter, schwarzer und kalter Schlüssel.
»Komm, mal sehen, ob er passt.«
Fast fanden sie das Schlüsselloch nicht, denn das Tor war mit breiten Eisenbändern beschlagen und mit schwarzen Bolzen in einem unübersichtlichen Muster bespickt. Aber dann lächelte Anne erleichtert, denn in einer der beiden großen Torflügel hatte sie die schwachen Umrisse einer kleineren Tür entdeckt, das schräg einfallende Licht des Nachmittags hatte sie ihr gezeigt. »Oh, schau nur - da in der großen Tür ist noch eine kleine Tür. Und da ist auch das Schlüsselloch. Siehst du?«
Es war geschickt verborgen, denn auf den ersten Blick sah es aus wie ein Teil der Verzierung - wie das spitz zulaufende Ende eines langen, verschlungenen Eisenblatts. Der schwere, kalte Schlüssel ließ sich ohne Schwierigkeiten ins Schloss stecken, aber sie konnte ihn nicht umdrehen. Sie drehte und rüttelte an dem Schlüssel, zog ihn wieder heraus und versuchte es noch einmal. Endlich wurde sie für ihre Mühe belohnt. Ein sattes Klicken bestätigte ihr, dass sich der Schlüsselbart mit dem Schloss verbunden hatte. Durch raren Gebrauch und Mangel an Öl hätte er sich fast festgefressen, aber dann drehte er sich doch.
»Wir wollen sehen, was es auf der anderen Seite gibt, ja?« Anne sprach bewusst laut. Sie wollte, dass das alte Haus ihre Stimme hörte. Sie benutzte den Schlüssel als Türklinke, erst drückte sie, dann zog sie und schließlich öffnete sich die Tür quietschend nach außen. Die neue Herrin von Herrard Great Hall nickte zufrieden. Es machte Sinn, dass eine Tür nicht nach innen, sondern nach außen aufging. Für Eindringlinge ist es so schwieriger hereinzukommen ... was sind das nur für Gedanken? Anne schüttelte den Kopf. Das lag an der eigenartigen Atmosphäre dieses Ortes. Sie zog ihren Kopf ein und schritt durch die Öffnung.
»Was siehst du, Wissy?« Der kleine Edward fragte mit einem so durchdringenden Flüstern, dass Anne lachen musste.
»Komm und schau!«
Sie verschwand durch die Tür, und der Knabe verzog zweifelnd das Gesicht. Als er aber Deborahs aufmunterndes Lächeln sah, lächelte er auch. »Ich komme!«, rief er und hüpfte über die niedrige Schwelle der kleinen Tür, bereit, eine neue Welt zu erobern. Aber dann blieb er stehen, sein Mund zu einem staunenden O geformt.
Anne stand unter einer kahlen Eiche in der Mitte eines großen, gepflasterten Platzes. Es war ein uralter, ein riesiger Baum und seine Äste streckten sich wie tröstende Arme aus, den müden Wanderer zu empfangen.
»Hast du schon einmal einen so tollen Kletterbaum gesehen?«
Johlend warf sich der Knabe in Annes Arme. »Hilf mir, Wissy. Hilf mir hinauf!«
Als Deborah sie eingeholt hatte, schob Anne den Kleinen bis zu einem dicken Astknoten hinauf. Von dort kletterte Edward zu einem natürlichen Aussichtspunkt weiter, von wo aus er sein neues Reich überblicken konnte: eine Gabelung aus zwei dicken Ästen, die aus dem Hauptstamm herauswuchsen.
»Du darfst eine Weile hierbleiben. Aber bitte nicht höher klettern.«
Edward schmollte. »Aber das ist doch leicht. Und ganz sicher, bestimmt.« Er nickte ernst.
Anne lächelte über seine Überredungsversuche. »Du darfst klettern, wenn ich oder Deborah dabei sind. Und wenn du größer bist, darfst du klettern, so viel du willst, aber jetzt noch nicht. Aber von heute an ist das dein eigener Baum. Und damit das jeder weiß, soll er >Edwards Baum< heißen.«
»Meiner? Meiner ganz allein?« Edward strahlte vor Glück.
»Ja, deiner ganz allein.«
»Was hältst du von dem Haus, Anne?« Anne wandte ihre Aufmerksamkeit ihrer Ziehmutter zu. »Ich weiß nicht recht. Es ist sehr ruhig hier. Aber vielleicht ist das gar nicht schlecht, nach allem, was wir erlebt haben. Nur seltsam, dass niemand hier ist.«
Deborah zitterte. Die Sonne senkte sich hinter den Mauern gen Westen und warf kalte Schatten über den Hof. »Ich glaube, hier hat schon lange niemand mehr gewohnt.«
Anne warf einen prüfenden Blick auf ihr neues Heim. Es gab viel zu sehen. Die abweisenden Mauern zeigten der Außenwelt eine nichtssagende Fassade, doch wenn man in dem zentralen Innenhof stand, sah man auf allen vier Seiten, dass Herrard Great Hall ein altes, wehrhaftes Haus war. Im winterlichen Abendlicht wirkte es in seiner wuchtigen Art sogar direkt schön. Sie
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