Der Tschernobyl Virus
Besucher eine Sondergenehmigung und Kindern ist der Zutritt verboten«, erklärte Ivantschuk. In dem Haus wartete Sergei, der die Gruppe als Führer begleiten und auf die Einhaltung der Regeln achten sollte. Ivantschuk las einen englischen Text vor, wonach jeder Besucher versicherte, dass er auf eigenes Risiko hier sei und das Ministerium nicht verklagen würde, wenn es ihm gesundheitlich schlechter gehen sollte. Jeder Teilnehmer sollte dieses Dokument unterschreiben, ansonsten wäre die Reise hier vorbei. Alle hatten ein mulmiges Gefühl, doch einer nach dem anderen unterschrieb.
Dann fuhren sie weiter. Als Erstes tauchten die Rohbauten der Reaktoren 5 und 6 am Ufer des Flusses Prypjat auf. Sie wurden nie fertig gestellt und rosteten seitdem vor sich hin. Etwas weiter hinten sahen sie die vier fertigen Reaktoren, wo seit 1976 Strom produziert wurde. Sie besichtigten die noch stehenden Reaktoren, die zwar inzwischen stillgelegt waren, doch noch als aktiv galten, da noch Brennstäbe in ihnen lagerten. Martina fühlte die beklemmende Atmosphäre in der Gruppe. Sie war froh, als es wieder in den Bus ging. Der Bus verließ das Gelände des Kraftwerks, passierte einen weiteren Kontrollpunkt und fuhr an einem steinernen Schild mit der Aufschrift >Prypjat< vorbei. Nun befand sich die Gruppe in der Zehn-Kilometer-Sperrzone. Die Wohnhäuser, der Kulturpalast Energetik, die Kaufhäuser und Kindergärten, alles in Prypjat war leer und sich selbst überlassen. Über verwachsene Wege lief Ivantschuk zu einer Schule, hinter ihm im Gänsemarsch die Gruppe. Im Erdgeschoss lagen alte Schulbücher auf dem Boden, an der Garderobe hingen ein paar Kleiderbügel, der Boden war mit Scherben bedeckt, überall lagen Stühle. An der Wand fanden sich noch die typisch sowjetischen Plakate, im Schrank standen Ukrainisch-Lehrbücher, von der Feuchtigkeit beschädigt. Es war surreal, durch diese Häuser zu laufen, vieles erinnerte an den hektischen Aufbruch vor 23 Jahren, als die Bewohner damit rechneten, nach wenigen Tagen zurückzukommen. Jetzt hatten sie zwei Stunden Zeit, um sich ein wenig in der Stadt frei zu bewegen. Doch wurden sie noch einmal darauf hingewiesen, nur auf den Hauptstraßen zu bleiben und nicht in die Gebäude zu gehen, da nur die Hauptstraßen dekontaminiert seien. Martina fragte Thomas und der stimmte sofort zu, mit ihr zusammen durch die Stadt zu gehen. Ivantschuk erklärte allen in der Gruppe den Weg zum Jahrmarkt. Sofort machten die beiden sich auf den Weg. Der Jahrmarkt war der bizarrste Ort in Prypjat, kurz vor der Katastrophe aufgebaut, um die Kinder der Werktätigen zu erfreuen. Seit 1986 standen inzwischen Riesenrad, Autoscooter und Karussells an diesem Ort, doch niemand war je damit gefahren - der Park sollte am 1. Mai eröffnet werden, dem wichtigsten Feiertag der Sowjetunion. Martina fühlte sich sehr unbehaglich und ganz unbewusst ging sie näher an Thomas heran. Als sie an den Autoscootern waren, legte er seinen Arm um sie, und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. Er nahm ihre Hand und ging mit ihr den Weg entlang an den vor sich hin vegetierenden Buden vorbei. Plötzlich hielt er an und nahm sie in die Arme. Er beugte sich vor und küsste sie, sie ließ es geschehen. Der lange, intensive Kuss wurde jäh unterbrochen durch ein Knacken hinter ihnen. Martina zuckte zusammen und ging einen Schritt zurück, »Was war das? «
Auch Thomas sah sich um, konnte aber nichts sehen. Er nahm wieder ihre Hand und ging einen Schritt auf die kleine, inzwischen von Pflanzen fast komplett eingeschlossene Bude zu, aus der er das Geräusch vermutete. Martina zierte sich etwas, »Komm, lass uns hier verschwinden«, in ihrer Stimme klang Angst mit, »wer weiß, was hier für Kreaturen herumrennen.«
Thomas lachte, »Ach was, du hast zu viel Fantasie, das wird ein Vogel sein oder so etwas.«
»Ich weiß nicht«, Martina zierte sich immer noch, »es hat sich angehört, als ob jemand ein Stück Holz zerbricht. Und das kann kein Vogel.«
»Da ist nichts Gefährliches, komm«, gerade, als Thomas sie ein Stück näher zu sich ziehen wollte, sprang plötzlich ein Tier hinter der Bude hervor. Die beiden zuckten zusammen und Martina entwich ein kurzer Schrei. Nach ein paar Sekunden beruhigten sie sich, als sie sahen, dass es sich um eine Katze handelte.
»Was ist das für eine hässliche Katze«, in Thomas’ Stimme klang Abscheu mit, »die ist riesig.«
»Sieht nicht schön aus«, Martina nickte, »sie sieht aus, wie ein
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