Der Tschernobyl Virus
düsteren Zukunftsaussichten machten sie traurig, ihr wurde auch bewusst, wie verletzlich und isoliert sie hier war. Maries übliche Reaktion auf eine Herausforderung hatte immer darin bestanden, ihre schützenden vier Wände zu verlassen und sich direkt ins Zentrum der Gefahr zu begeben, doch ihr jetziger Gegner hatte dafür gesorgt, dass sie in der Falle saß. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis sich herausstellte, ob sie sich mit einem Virus angesteckt hatte, vor dem sie eigentlich ihr Land hatte schützen sollen. Sie wurde das bedrückende Gefühl nicht los, versagt zu haben.
Niedergeschlagen griff sie nach der Fernbedienung und schaltete BBC ein. Es war wie ein düsteres Vorzeichen, dass der Sender vierundzwanzig Stunden am Tag über die Geschichte berichtete. Eine rote Textzeile lief unten durch das Bild, die abwechselnd zwei Nachrichten brachte: »Zivilschutzbehörde erhöht Gefährdungsstufe von Pandemiestufe 4 auf Pandemiestufe 5«, und, »22 Tote und mindestens 100 Infizierte in London.« Marie wusste, dass die Zahl der Opfer stieg, doch die kurzen Aufnahmen von Leichenwagen, die Krankenhäuser verließen, und die Interviews mit verzweifelten Familien machten ihr die Bedrohung durch diesen Virus in einer Weise bewusst, wie es Statistiken niemals bewirken konnten. Ebenso bestürzt war Marie über Berichte, die Reaktionen in anderen Teilen des Landes zeigten. Obwohl außerhalb von London noch keine Fälle gemeldet worden waren, begannen die Menschen in weit entfernten Städten Gasmasken und Lebensmittelkonserven zu horten. Es gab Spots, in denen gezeigt wurde, wie man sich richtig die Hände wäscht und das man vorsichtig sein sollte, wenn man sich zum Beispiel an den Augen kratzt.
Der Klingelton ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Es war Thomas Karg.
»Marie«, Karg klang sehr besorgt, »Wie geht’s Ihnen? Ist Marc okay?«
Sie lächelte halbherzig. »Ich sitze an einem schönen Tag hier drinnen fest, aber sonst ist alles okay. Marc geht es, glaube ich, auch gut. Er ist gerade in seinem Zimmer.«
»Wir können es uns nicht leisten, dass Sie krank werden, hören Sie?«, sagte er, und Marie konnte quasi seine düstere Miene hören.
»Wirklich anrührend, wie Sie um uns besorgt sind, Aber wir haben nicht die Absicht, krank zu werden.«
Seine Stimme wurde weicher. »Wie stehen die Chancen?«
»Schwer zu sagen, aber Marc glaubt, dass sie nicht besonders hoch sind. Wahrscheinlich unter zehn Prozent.«
»Also, ich hab da einen Tipp. Meine Mutter hat mir beim kleinsten Anzeichen einer Grippe oder einer Erkältung immer Lebertran und Vitamin C eingeflößt.«
»Werde ich mir merken.« Sie lachte. »Hat Ihre Mutter auch irgendein Hausmittelchen für tödliche Viren der Stufe fünf?«
Es folgte eine lange Pause. Marie hörte, wie Karg sich eine Zigarette ansteckte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn jemals rauchen gesehen zu haben. »Hier in Berlin ist die Hölle los, Marie. Wir brauchen Antworten. Also, bleiben sie gesund. Ich habe jetzt noch einen Termin mit dem Gesundheitsminister. Ich rufe sie dann an.«
Sie legte das Handy auf den Schreibtisch und lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück. Sie ertrug die Situation nicht, zum Nichtstun verdammt zu sein. Ihr Telefon klingelte. Sie hob ab und sagte: »Marie Chudy.«
»Ich habe entdeckt, dass in meinem Verabredungskalender noch eine Lücke frei ist«, sagte Marc, »Ist es in Ordnung, wenn ich vorbeischaue?«
Sie lachte milde. »Ich glaube, ich kann Sie noch irgendwo dazwischenschieben.«
Kaum hatte Marie ihren Mundschutz angezogen, klopfte es an der Tür. Auf der anderen Seite stand Koch in T-Shirt und Jeans. Vom Mundschutz abgesehen, sah er aus, als sei er an einem gemütlichen Sonntagmorgen unterwegs, um sich einen Kaffee und eine Zeitung zu besorgen. Er kam ins Zimmer, zog den Mundschutz vom Gesicht und knetete ihn zwischen den Fingern wie einen Ball. »Ich hasse diese Dinger.«
»Merkwürdig für einen Arzt, der sich auf ansteckende Krankheiten spezialisiert hat«, sagte Marie und trat instinktiv einen Schritt zurück. Koch lächelte sie verwegen an. »Ja. So langsam wird mir klar, dass ich bei meiner Karriereplanung einen entscheidenden Fehler gemacht habe.«
»Sie auch?« Marie lachte. »Bringen Sie uns beide nicht in Gefahr, wenn Sie dieses Ding ausziehen?«
»Ich habe kein Fieber, und ich huste nicht. Außerdem habe ich seit Tagen keinen Cesar-Salat mehr gegessen. Es besteht also eine gewisse Chance,
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