Der Tuchhändler (German Edition)
mein eigenes Ohr gelegen hat. Ich sehe, wie meine Mutter unbekümmert lacht und weiß, daß sie zu ihm gesagt hat: Nun höre dir einmal den Unsinn an, den mein Mann dort drinnen immer wieder veranstaltet, damit wir beide kräftig darüber lachen können!, und ich sehe, ohne es zu sehen, wie ihre Hand auf seinem Hintern liegt, der sich klein und muskulös in seiner lächerlichen engen Hose abzeichnet, und diesen liebkost.«
Er fuhr sich mit der Hand so hart durch sein Haar, daß die Strähnen nachher wild zu Berge standen. Er sah mich mit funkelnden Augen und verzerrtem Gesicht an; in diesem Moment wirkte er, als wäre er hochgradig verrückt. Ich wußte, daß er es nicht war; nur seine Seele ergab sich in diesem Moment dem alles erstickenden Zorn.
»Ebran riß sich von der Mauer los und starrte meine Mutter an. Sein Mund arbeitete, aber seine Augen begannen zu leuchten wie die eines kleinen Hündchens, das unter den Abfällen der großen Hunde plötzlich einen fetten Brocken Fleisch gefunden hat. Er stürmte aus der Küche, rannte mich über den Haufen, daß ich zu Boden fiel und er selbst an die gegenüberliegende Wand prallte; er fuhr herum, erblickte mich, kicherte einmal, als könne er nicht fassen, was sich ihm soeben dargeboten hatte, und floh mit fliegenden Armen und Beinen aus dem Haus. Ich lag auf dem Boden, halb benommen und mit dem bleiernen Geschmack meines eigenen Blutes im Mund; mir war kaum bewußt, daß ich aus der Nase und aus einer aufgeplatzten Stelle in meiner Unterlippe blutete. Meine Mutter stand in der Tür und blickte auf mich herab, ihr Gesicht eine Maske des totalen Unverständnisses, und dann lächelte sie. Ich werde dieses Lächeln niemals vergessen; es war so blöde, so hirnlos, als wolle sie mich und vor allem sich selbst davon überzeugen, daß eigentlich nichts passiert war, obwohl ihr schon zu dämmern begann, daß sie eine gewaltige, himmelschreiende Dummheit begangen hatte. Versteht Ihr, mir wurde alles klar, während mir das Blut auf das Hemd tropfte und ich nach oben in Mutters fassungsloses Gesicht sah: Ebran würde auf dem schnellsten Weg zu der Gaststätte rennen, in der sein Pferd angebunden war, würde aufspringen und es antreiben, bis er die Burg oben auf dem Berg erreicht hätte; dort würde er noch im Burghof ›Aufstand‹ und ›Revolution‹ kreischen, bis alles zusammengelaufen wäre, und dann keuchend und in abgehackten Worten berichten, was er soeben gehört hatte. Sagte ich vorhin, er habe ausgesehen wie ein kleiner Hund, der einen fetten Brocken findet? Er packte den Brocken mit den Zähnen und schleifte ihn zu den großen Hunden und bot ihn ihnen zum Fressen an, damit sie ihn einmal statt zu beißen ableckten. Ich rappelte mich auf, stieß die Arme meiner Mutter beiseite, die mir aufhelfen wollte, und rannte gegen die Tür der Stube. Sie war verschlossen, und mein Aufprall warf mich wieder zu Boden, aber ich hörte, wie sie drinnen erschreckt auffuhren. Ich schrie nach meinem Vater. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und er stürzte heraus, im Gesicht so bleich, daß ich dachte, er sei bereits tot, und sein Leichnam würde auf mich zufallen. Ich kreischte. Er fiel neben mir auf die Knie und schüttelte mich wie ein Wilder.
›Was ist los?‹ rief er. ›Was fehlt dir?‹
Ich blickte mich wild um. Ich sah meine Mutter, die ebenfalls vor die Tür zur Stube gekommen war, und ich sah meinen Großvater, der neben Christian Leutgeb stand und nach draußen spähte. Ich sah, wie die Augen meiner Mutter immer weiter wurden, als sie ihren Vater erkannte, ihn und einige der anderen Verbannten, die sich aus der Stube drängten. Ich glaube, daß ihr in diesem Moment klarwurde, was wirklich in den letzten Wochen vorgefallen war. Mein Vater sah von mir zu ihr und zurück, ohne zu begreifen, was geschehen war, und selbst Christian Leutgeb schien so verwirrt, daß er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Mutter keuchte auf und stürzte davon, ohne ein Wort zu sagen, sie rannte mit klappernden Schuhen die Treppe hinauf. Sie schrie nicht, sie weinte nicht, sie flüchtete in völliger Lautlosigkeit , und wir hörten, wie ihre Schritte über den Boden im ersten Obergeschoß polterten und wie die Tür ihres Zimmers aufgerissen und wieder zugeschlagen wurde. Vater blickte ihr verständnislos nach. Zuletzt wandte er sich wieder an mich.
›Was ist passiert, Sohn?‹ fragte er.
›Der Mann‹, blubberte ich. ›Der Mann weiß alles.‹
›Welcher Mann, zum Teufel? ‹ rief
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