Der Tuchhändler (German Edition)
niemanden bemerkt«, sagte sie verwirrt. Ich zuckte mit den Schultern. Innerlich war ich gespannter, als ich mich gab. Wie würde sie den Vorfall schildern? Ich wartete beinahe ängstlich darauf, daß ihre Erzählung zu stocken begänne, da sie nicht wissen konnte, über welche Informationen ich verfügte; mir war klar, es würde bedeuten, daß sie log.
Aber sie stotterte nicht. Sie sagte: »Ich steckte schon seit der Schließung des Stadttores hinter einem großen Haufen Treibholz draußen auf der Kiesbank. Ich hatte ein Messer mitgenommen, um mich für den Fall zu schützen, daß irgendein Kerl mich entdecken würde. Mein Plan war, den alten Flößer anzusprechen und zu bestechen, damit er mir verriet, was er wußte. Ich hatte festgestellt, daß er immer wieder zum Wasser herunterkam, um daraus zu trinken oder sich für ein paar Minuten auf dem Kies auszustrecken.«
»Warum?« fragte ich. »Warum interessiertet Ihr Euch dafür, was er tat oder wußte?«
Sie antwortete nicht sogleich.
»Ich wollte wissen, was Euch wirklich bewegte. Und ich wollte wissen, was mit der Gräfin geschehen war. Ich kannte sie kaum, aber sie hatte mir ermöglicht, hierher zu kommen, und ich fühlte mich dafür verantwortlich, ihrem Verschwinden hinterherzuspüren.«
Ich antwortete nicht darauf, und nach einer Weile nahm sie den Faden ihrer Erzählung wieder auf.
»Als das kleine Tor aufging, kamen statt des alten Mannes die beiden Kerle, die ihn mit sich schleppten. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, bis ich sah, daß sie ihn zum Wasser schleiften und dort ertränkten.« Ihre Stimme zitterte plötzlich und verrutschte ein paar Töne nach oben.
»Ich bin kein Feigling!« rief sie. »Aber was hätte ich tun können? Ich umklammerte den Griff meines Messers, ohne es zu wagen, aus meiner Deckung hervorzustürzen. Vielleicht hätte ich sie verscheuchen können. Aber ich traute mich nicht. Ich schloß die Augen und hörte, wie sie ihn ersäuften.«
»Sie hätten sich nicht verscheuchen lassen«, sagte ich. »Wenn Ihr hervorgekommen wärt, hättet Ihr dasselbe Ende genommen wie der arme Teufel.«
»Das könnt Ihr nicht wissen«, sagte sie nur halb beruhigt. Sie schniefte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Es lag im Gegenlicht des Feuers, und ich konnte nicht erkennen, ob sie geweint hatte.
»Als sie weg waren, stolperte ich heraus und rannte zum Wasser hinunter. Ich dachte, ich könnte ihn vielleicht an Land ziehen; ich dachte, er sei vielleicht noch nicht tot. Aber sie hatten ihn zu weit nach draußen geschoben, und seine Kleider waren voll Wasser. Ich watete hinein, doch ich konnte ihn nicht erreichen. Ich sah seine Gestalt als einen dunklen Schatten, der sich träge mit der leichten Strömung von mir wegbewegte und bald darauf versank.«
Ich sah unwillkürlich auf ihre Beine hinunter. Sie trug noch immer ihre schmalen, spitzen Schuhe, aber das Leder war jetzt endgültig ruiniert. Sie ließ die Stuhllehne los und schlang beide Arme um ihren Oberkörper.
Plötzlich wußte ich, daß das einzig Richtige gewesen wäre, sie in den Arm zu nehmen und ihr über den Rücken zu streichen. Ich stand auf, aber ich stellte mich nur neben ihren Stuhl und ließ die Hand auf der Lehne ruhen. Mein Herz schlug schneller, aber es pumpte Wärme in meinem Körper. Sie sah zu mir auf, und ich konnte die verfärbten Streifen sehen, wo sie sich mit schmutzigen Händen durch das Gesicht gewischt hatte. Ich ging neben dem Stuhl in die Hocke. Es war mir auf einmal unangenehm, auf sie hinunterzusehen.
»Ihr wart sehr tapfer, Jana«, sagte ich. »Kaum ein Mann hätte gewagt, was Ihr gewagt habt. Tatsächlich ist einer weggelaufen, anstatt auf den Gedanken zu kommen nachzusehen, ob der alte Mann noch lebte.«
Sie sah mich zweifelnd an. Ich zuckte mit den Schultern und versuchte ein Lächeln. Es spiegelte sich halbherzig auf ihrem Gesicht wider.
»Ich habe heute nach Euch gesucht«, sagte ich. »Die Stadtresidenz des Herzogs war leer.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Sie sind fast alle heute morgen nach Eching hinaus geritten, mit allen Dienstboten, damit sie sich nicht um Essen und Trinken zu kümmern brauchten. Ich hielt mich versteckt.«
»Weshalb?« fragte ich. »Wovor mußtet Ihr Euch verstecken?«
»Vor den Mördern«, flüsterte sie. Meine Nackenhaare stellten sich auf.
»Weshalb?« wiederholte ich scharf.
»Ich habe zuviel Krach gemacht, als ich ins Wasser hineinlief«, sagte sie. »Die Männer hörten mich und kamen zurück. Ich
Weitere Kostenlose Bücher