Der Tuchhändler (German Edition)
ganze Verantwortung nun dem jungen Mann überlassen zu müssen. Ich seufzte und wandte mich ab, als der letzte Reiter hinter den wuchtigen Flankentürmen des Tores verschwand. Ich konnte nichts mehr tun. Ich wünschte mir, nach Hause zurückzukehren und mich in der Stube vor das Feuer zu setzen, um nachzudenken und mich beruhigen zu können. Doch das war nicht alles, und ich wußte es nur zu gut: Was ich mir eigentlich wünschte, war, nach Hause zu kommen und Maria zu erzählen, was geschehen war. Ich wünschte mir, das Lachen Marias zu hören und ihre Stimme, wie sie sagte: Wenn du alles getan hast, dann vergiß es, bis es wieder soweit ist, daß du etwas tun kannst; und völlig unvermittelt ertappte ich mich dabei, wie ich mich suchend auf der Kiesbank umblickte, ob Jana Dlugosz noch zu sehen wäre. Ich stellte mir vor, daß sie in etwa das Gleiche sagen würde. Ich starrte einen Moment verwirrt zu Boden.
Als ich den Kopf wieder hob, blickte ich die Mauer an, hinter der sich die Stadt duckte. Unwillkürlich suchte ich nach dem Dach des leerstehenden Hauses, aber ich konnte es im Gewirr der Schindeln nicht entdecken. Ich dachte an die verhängten Fenster und die Kerze, die man auf einer Fensterbank hatte stehen lassen; an die Stimmen, die Sebastian Löw gehört haben wollte. Ich war durchaus nicht der Meinung, daß er sich diese Dinge eingebildet hatte.
Jemand bewohnte das Gebäude, ohne daß der Stadtkämmerer davon wußte; oder sollte ich sagen, jemand verbarg sich darin? Gestern hatte ich vorgehabt, Hanns Altdorfer danach zu fragen. Heute dachte ich anders darüber: Altdorfer hätte ein paar Büttel in das Haus geschickt, und diese hätten womöglich nur die Spuren eines nächtlichen Liebeslagers gefunden oder diejenigen verschreckt, die sich tatsächlich darin versteckten. Keines dieser Ergebnisse wollte ich erreichen. Ich mußte mehr darüber in Erfahrung bringen, bevor ich mich wieder an den Stadtkämmerer wandte.
Ich weiß nicht genau, was ich mir vorgestellt hatte, als ich den Plan faßte, das alte Haus zu beobachten; vermutlich eine überwältigende Entdeckung, einen buckligen, vernarbten Riesen mit Mörderhänden und blutunterlaufenen Augen, der aus dem Haustor schlurfte und dem noch das Blut der Ermordeten von den Krallen troff – etwas in dieser Art. Natürlich geschah nichts dergleichen, kein Riese und auch kein normaler Sterblicher ließen sich in oder um das Haus blicken, sooft ich auch meine Runden darum zog: von der Ländgasse durch das Ländtor hinaus zum Landeplatz der Flößer vor der Stadtmauer und von dort durch eines der kleinen Flößertore wieder zurück in die Ländgasse, um die Runde von neuem zu beginnen. Die Männer an den Flößen schenkten mir keine Beachtung; nachdem ein Teil von ihnen in meinem Auftrag davongeritten war, beschäftigten sich die meisten der Übriggebliebenen damit, ihrem Rausch vom Vorabend neue Nahrung zuzuführen. Einige legten jedoch wieder ab und stakten in die Mitte des flachen Isarbetts hinaus, um sieh flußabwärts unter der Holzbrücke beim Spital treiben zu lassen, wo sie außer Sicht gerieten. Ich legte hier und dort Pausen ein, um nicht allzuoft an dem alten Haus vorbeizukommen. Einmal besuchte ich mein Pferd, das ich eingedenk der gestrigen Erfahrung bei den Flößern gelassen hatte, und fütterte es mit einer holzigen kleinen Rübe, die gestern von einem der Vorratskarren gefallen und im Rinnstein der allgemeinen Aufmerksamkeit entgangen sein mußte. Aber sooft ich mich aus der Nähe des Hauses entfernte, plagte mich der Gedanke, gerade jetzt in diesem Moment würde etwas Wichtiges geschehen, und ich eilte voller Unruhe an meinen Beobachtungsort zurück.
Ich trieb dieses Spiel mit wachsendem Unmut und sinkender Begeisterung, bis ein leichter Nieselregen einsetzte, der das schwächer werdende Licht des Nachmittags vollends in eine kalte, unfreundliche Dämmerung verwandelte. Ich begann zu frieren; als der Regen stärker wurde und länger anhielt, verwandelte sich der Boden in der Gasse in eine knöcheltiefe Mischung aus Kot und Lehm, und meine Schritte verursachten unangenehm saugende Geräusche. Mehr als einmal hatte ich das Gefühl, die Stiefel würden mir von den Füßen gezogen. Vorher war ab und zu noch jemand durch die Gasse gekommen; jetzt war ich ganz alleine, und endlich wurde mir klar, wie sehr ich auffallen mußte, wenn ich weiter meine Runden zog. Ich beschloß, meine Wache für diesen Tag aufzugeben, wenn auch mit einem Gefühl der
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