Der Turm der Könige
Quellen, aus denen das Elixier der ewigen Jugend sprudelte. Wenn dem Mädchen der graue Alltag unerträglich schien, brauchte es nur die Augen zu schließen und sich vorzustellen, dass es in der Welt der exotischen Geschichten lebte, die ihr Vater ihr erzählte. Vielleicht hatte sie sich deshalb Hals über Kopf in den geheimnisvollen Piraten verliebt. Vielleicht hatte sie schon lange in einer Phantasiewelt für ihn geschwärmt.
Im Grunde seines Herzens war Juan Nepomuceno erleichtert, als er hörte, dass seine Tochter sich endlich verliebt hatte. Ihn plagte noch immer das Gewissen, weil er seinerzeit keine Einwände gegen diese Hochzeit mit dem bejahrten Witwer erhoben hatte. Ihm war bewusst, dass seine Frau die Neigung hatte, die Menschen, die sie liebten, nicht ernst zu nehmen, aber er konnte nicht anders: Er liebte sie wirklich. Er liebte ihre herrische, anmaßende Art, ihre Launen, ihren Missmut, ihre gewaltigen Wutanfälle, ihr leidenschaftliches Wesen. Doch insgeheim wünschte er seiner Tochter alles Glück der Welt.
***
JULIA LIESS SICH NICHT IM GERINGSTEN von der Missbilligung ihrer Mutter beeindrucken. Sie war es leid, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Vor Jahren hatte sie sich in diese arrangierte Ehe gefunden, die sie jäh aus einer glücklichen Kindheit gerissen hatte, in der sie die Königin in einem verwunschenen Haus war, um sie zur Dienerin eines alten Mannes zu machen. Neun Jahre schlief sie in dem Nebenzimmer ihres Mannes, lauschte seinem Schnarchen, seinem Husten und Röcheln und wartete, dass es wieder Zeit war, ihm seine Medikamente zu verabreichen oder seine Umschläge zu wechseln.
Am Anfang war sie wütend gewesen. Sie hasste ihre Eltern und ihren Mann gleichermaßen dafür, dass sie gezwungen war, sich in dieses aufopferungsvolle Leben zu fügen. Sie weinte heimlich und biss sich auf die Zunge, wenn sie gefragt wurde, wie es ihr gehe. Doch nach kurzer Zeit nahm sie ihr Schicksal an und redete sich ein, dass ihr durch dieses Opfer der Himmel gewiss sei. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit im Zimmer des Kranken, an den Medikamentengeruch, vermischt mit dem Geruch schweißnasser Haut in den Fiebernächten, an das Wispern, um den Schlafenden nicht zu wecken.
Am Ende, als der Drucker nicht mehr aus dem Bett aufstand, als er sie nicht mehr erkannte, als sie alle halbe Stunde seine spindeldürren Beine abreiben musste, damit das Blut zirkulieren konnte, weil sich Geschwüre an Fersen, Knien und Hinterteil bildeten, als sie seine Ausscheidungen mit einer Bettpfanne auffangen musste, weigerte sie sich rundweg, sich helfen zu lassen. Sie pflegte ihren Mann, ohne sich zu beklagen, ohne ein Zeichen des Missfallens, ohne einen Vorwurf.
Irgendwann war Julia durch nichts mehr zu erschüttern und verwandelte sich in eine geisterhafte Gestalt mit wächsernem Gesicht und dunklen Augenringen. Die Nachbarn, denen es stets verdächtig vorkam, wenn jemand aussah wie das blühende Leben, kamen zu dem Schluss, dass dieses Abbild matter Tugendhaftigkeit nur bedeuten konnte, dass sie eine Heilige war.
Eine Woche, nachdem sie ihren Mann zu Grabe getragen hatte, gab Julia die gesamte Kleidung des Verstorbenen an das Armenhaus. Sie ließ das Bettzeug und die Matratze verbrennen, in denen er gestorben war, und schenkte den Rost, die Beine und das Kopfteil des Ehebettes dem Spital der Santa Caridad, in dem sich die Apotheke ihres Vaters befand. Sie riss Fenster und Türen des Hauses weit auf, und als sie merkte, dass weder Lüften noch das Aufstellen von Räucherbecken den Geruch nach Alter und Tod aus den Wänden vertrieben, ließ sie neu streichen und das Haus von außen weißen.
Bald stellten die Nachbarn fest, dass die Farbe in die Wangen der Witwe de Haro zurückkehrte. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, dass niemand sie ihr Unglück hatte beweinen sehen, nicht einmal am Tag der Beerdigung. Sie hatte keine Augenringe mehr und traf Entscheidungen in der Druckerei wie ein Mann.
Fünf Jahre waren vergangen, seit Señor de Haro dieses Jammertal verlassen hatte, und niemand hatte offiziell um Doña Julia geworben, obwohl sie eine noch junge Frau in beneidenswerter gesellschaftlicher Position war. Üblicherweise heiratete die Witwe eines Druckers ihren Werkstattmeister. Cristóbal Zapata wusste das und warb seit einiger Zeit mit schüchterner Zurückhaltung um sie. Er vertraute darauf, dass die Macht der Tradition und sein vorsichtiges Werben schließlich die unüberwindliche Mauer einreißen
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