Der Turm der Seelen
heraus.
Lol blieb stehen. Der Mann entfernte sich vom Haus, ohne sich umzusehen. Konnte das der Typ sein – breite Schultern, drahtiges weißes Haar? Sollte er ihn ansprechen, bevor er in sein Auto stieg und wegfuhr?
Aber der Mann stieg in kein Auto. Er ging zügigen Schrittes und grüßte freundlich, als er einer Frau begegnete. Lol folgte ihm bis zu einer Kreuzung, hinter der man ein paar Felder sah. Davor befand sich ein Supermarkt mit einem Turm, der den großen Parkplatz überragte. Der Mann ging eilig die Treppe zum Supermarkt hinunter, und Lol wartete, bis er unten war, bevor er ihm folgte.
Er beobachtete, wie der weißhaarige Mann durch das Drehkreuzging. Er zögerte. Sollte er diesen Typen womöglich am Obststand stellen, ihm in irgendeinem Gang den Weg blockieren, damit er mit seinem Einkaufswagen nicht weiterkam?
Lol ging ebenfalls durch das Drehkreuz in den Supermarkt. Er sah sich um, konnte aber den Mann im blauen Anzug nicht mehr entdecken. Lol ging unsicher weiter durch den Laden. Er fühlte sich sehr auffällig, also nahm er sich einen Einkaufskorb von einem Stapel. Wirklich, für so etwas war er überhaupt nicht geeignet.
Die Stimme kam von sehr dicht hinter seinem linken Ohr.
«Suchst du mich, Bruder?»
Es war inzwischen Viertel nach zehn.
«Warum muss es um zwölf Uhr sein?», fragte Merrily.
Simon St. John wechselte einen Blick mit Al.
Al saß mit einem herausfordernden Blick sehr gerade auf seinem Stuhl und hatte die Hände in die viel zu kleinen Taschen seiner Weste gebohrt. Simon St. John dagegen wirkte genauso mitgenommen wie seine alte Jeans.
«Wenn wir auf Fahrt waren», sagte Al, «haben wir über Nacht ein Lager aufgeschlagen, aber wir haben auch immer um zwölf Uhr mittags eine Pause gemacht. In der schattenlosen Stunde. Verstehen Sie? Der Mittag ist der
tote
Punkt im Tagesablauf. Dann gehört der Tag den Toten, sie saugen die gesamte Energie des Tages in sich auf. Manchmal kann man es für den Bruchteil einer Sekunde beinahe sehen, wie ein Foto, das in sein Negativbild umschlägt. Alles ist vollkommen ruhig, und alles – die Straße, die Felder, der Himmel – gehört den Toten.»
«Er meint, dass die Mittagsstunde die Zeit des
Mulo
ist», sagte Simon. «Der einzige Moment, in dem man bei Tageslicht einen sehen kann.»
«Nein.» Al warf einen Gitarrensteg von einer Hand in die andere. «In den meisten Fällen sieht man sie überhaupt nicht.»
Für Merrily klang das alles reichlich melodramatisch.
Die schattenlose Stunde
. Und doch …
«Sie wissen doch, dass wir den Exorzismus in der Hopfendarre um die Mittagszeit durchgeführt haben, oder? Stock wollte, dass ich es abends mache, aber ich wollte es im hellen Licht eines Sommermorgens machen. Damit es nicht
unheimlich
wirkt. Wussten Sie das?»
«Und dabei haben Sie diese Schwefeldämpfe gerochen?»
«Ja, um zwölf Uhr mittags. Oder jedenfalls kurz davor oder danach.»
Al sah zu dem Foto hinüber. «Rebekah hätte Sie sich holen können. Sie hatten Glück.»
«Oder einen besonderen Schutz.»
«Und hatten Sie gestern Abend auf dem Hopfenfeld auch einen besonderen Schutz?»
Merrily spürte, dass sie rot wurde. «Es ist zu schnell passiert.»
«Da hatten Sie schon wieder Glück», sagte Al.
«Was ist sie?», fragte Merrily. «Das muss ich wissen. Sie verwenden diesen Ausdruck – sie ist eine
Muli
. Klingt schaurig. Aber wovon sprechen wir hier wirklich?»
Simon St. John kam zu ihnen herüber und setzte sich, ein Glas Wasser in der Hand. Sie tranken alle drei Wasser. Keinen Alkohol und keinen Kaffee, nicht heute.
«Es geht hier nicht um einen Geist im eigentlichen Sinne», sagte Simon. «Und auch nicht um das, was man üblicherweise unter Besessenheit versteht. Es geht darum, sich die Aura von jemandem auszuleihen.»
«Das passt gut zu den Roma», sagte Al. «Man lebt mit leichtem Gepäck und leiht sich ansonsten was aus.»
«Nur, dass der
Mulo
nichts zurückgibt», sagte Simon. Er rieb sich die Arme, als wäre ihm kalt.
«Das stimmt», pflichtete Al ihm bei.
Simon sagte: «Der Tod scheint in Phasen abzulaufen – wenn der Körper stirbt, existiert der Geist noch eine Zeitlang in der Aura weiter, dem Astralleib, dem körperlichen Energiefeld. Normalerweise sollte er dann nach dem Ausgangsschild suchen und zusehen, dass er so schnell wie möglich wegkommt.»
«Aber wenn der Lebenskreis nicht vollendet wird», sagte Al, «wenn es ein Verlangen nach Gerechtigkeit, nach Ausgleich, nach Genugtuung
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