Der Turm der Seelen
hatte es nachts nicht beziehungsweise nur als schattenhafte Masse wahrgenommen, die er für Bäume oder den Hügel gehalten hatte. Doch was er jetzt vor Augen hatte, war in einer Region, inder die Bauernhöfe und Cottages beinahe wie organisch gewachsen wirkten, die reinste Barbarei.
Stock beobachtete Lols Reaktion mit einem schiefen Lächeln. «Na? Gefällt dir Adam Lakes Scheune? Auf der anderen Seite steht noch eine, die ist sogar noch höher. Ungefähr zehn Meter von der Hopfendarre weg. Mann, wir leben echt in einem Scheunen-Sandwich.»
«Das hat
er
getan?»
«Diesem Wichser gehört das Land rund um die Hopfendarre. Die erste Scheune hat er gebaut, als Stewart nicht verkaufen wollte.»
«Kann er das überhaupt machen?» Stocks Zorn war mit einem Mal sehr nachvollziehbar.
«Er hat’s schließlich gemacht, oder? Klar, kann er. Grundbesitzer in der Provinz können jede Monstrosität in die Gegend pflanzen, solange es ein landwirtschaftliches Gebäude ist und sie den Bedarf nachweisen können.
Bedarf!
Dass ich nicht lache. Weißt du, wofür diese Scheunen benutzt werden? Für gar nichts. Sie sind leer – große, hallende, leere Hohlkörper.»
«Er hat das nur getan, um …»
«Uns das Licht wegzunehmen.» Stock schwitzte, doch er wirkte inzwischen vollkommen nüchtern. «Er wollte den Lichteinfall blockieren. Und das war für Ash besonders grausam, verstehst du – obwohl sich alle fragen, ob Lake schlau genug ist, um wirklich zu kapieren, was er da gemacht hat – der alte Junge war nämlich Fotograf.»
«Also war Licht sein wichtigstes Medium.»
«Genau.» Stock begann sich eine Zigarette zu drehen. «Er liebte das Licht. Lake behauptet natürlich, dass er ihn keineswegs zum Verkauf gedrängt hat. Er brauchte einfach nur ein paar Lagerräume für Heu und Futtermittel. Das erzählt er allen. Der Arsch.»
«Hat … Stewart überhaupt keinen Widerspruch eingelegt?»
«Dafür hat er nicht lange genug gelebt, dank seiner Zigeunerfreunde – diese schlanken, süßen, aalglatten Zigeunerjungs, Mannomann! Eine letzte, bedeutsame Maßnahme hat er allerdings doch noch ergriffen.»
Der Pfad gabelte sich – Lol dachte, das müsse die Stelle sein, an der er sich nachts verirrt hatte –, und Stock wandte sich nach rechts und stieg über einen Zauntritt.
Die Hopfendarre lag nun genau vor ihnen. Sie war aus rotem Backstein erbaut, kleiner, als sie in der Nacht gewirkt hatte, und jetzt erst wurde das volle Ausmaß des Horrors sichtbar. Der eigentliche Turm der Hopfendarre besaß nur ein Fenster nach vorne, die meisten anderen lagen offenbar an den Seiten im Schatten der riesigen Wellblech-Scheunen.
Auch Lol stieg über den Zauntritt zu Stock, der auf dem Feld auf der anderen Seite gerade seine Selbstgedrehte anzündete.
«Falls du es nicht schon erraten hast – Onkel Stewarts letzte Maßnahme war Gerard Stock. Stephie war Stewarts», er hustete, «Lieblingsnichte. Er hat sich sehr um sie gekümmert, nachdem sich ihre Eltern getrennt hatten. Und wie hat sie es ihm vergolten? Heiratet Gerard Stock. Steph ist süße achtzehn, dieser Typ ist zwanzig Jahre älter, raucht ständig Dope und ruiniert sie alle beide. Ach ja, und der absolute Gipfel: Eines Abends fällt Steph die Treppe runter, verliert ihr Baby, und dann gibt es noch weitere Komplikationen, und sie kann keine Kinder mehr bekommen. Und das alles ist natürlich Gerard Stocks Schuld, logisch. Und was macht Stewart? Er schließt seine frühere Lieblingsnichte vom Erbe aus. Dachten wir jedenfalls.»
Beide betrachteten einen Moment lang schweigend die Hopfendarre.
«Jetzt kann man sich fragen», fuhr Stock fort, «warum dieser reizende alte Homo sein geliebtes Heim ausgerechnet dem Mannin die Hände fallen lässt, den er hasst wie die Pest. Genau. Er hat sein Haus nicht Gerard Stock vererbt – er hat Gerard Stock an Adam Lake vererbt.»
Stock hustete und lachte dann. Die Sonne ging jetzt sehr schnell unter, und eine Seite der Hopfendarre lag bald im nahezu schwarzen Schatten einer der Wellblechscheunen.
«Als Lake mitbekommt, wer die Erben sind, lässt er uns von seinem Agenten ein Angebot schicken. Wir lehnen ab. Anschließend hat er die zweite Scheune hochgezogen.» Er nickte in Richtung des Hauses. «Aha – der Strom ist wieder da.»
Hinter zwei Fenstern der Wand, die im Schatten lag, war Licht zu sehen. Wie Lol feststellte, waren beide Fenster eher klein, und die Stocks konnten sie vermutlich nicht vergrößern, weil das Darrenhaus
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