Der Turm der Seelen
stehen.» Merrily sah an ihrem T-Shirt hinunter. «Heute ist mein freier Tag. Siehst du – kein Kreuz, kein Priesterkragen.»
«Gehen Sie weg.»
Merrily schüttelte den Kopf. «Dieses Mal nicht.»
«Das ist Hausfriedensbruch! Das ist verboten. Ich rufe die Polizei.»
«O. k.»
Amy lehnte sich kurz an das Gewächshaus, machte dann zwei Schritte, blieb wieder stehen und begann zu weinen. Ihre Schultern bebten – eine schlaksige, unbeholfene Jugendliche in einem großen, reizlosen, rechteckigen Garten.
«Ich will nur mit dir reden», sagte Merrily. «Eigentlich will ich dir nur zuhören.»
«Gehen Sie weg.»
«Was hätte das für einen Sinn? Dann müsste ich nur ein anderes Mal wiederkommen.»
«Bei Leuten wie Ihnen wird mir übel», sagte Amy.
«Das habe ich gehört.»
«Ha, ha», machte Amy.
«Mir ist auch mal in der Kirche schlecht geworden. Das kann jedem passieren.»
Amy sah schweigend auf ihre weißen Gymnastikschuhe hinunter.
«Und manchmal ist es mir so vorgekommen, als hätte Gott mich im Stich gelassen», sagte Merrily. «Man denkt, er sieht einen leiden und rührt trotzdem keinen Finger. Man denkt … vielleicht ist Gott doch gar nicht so … nett. Und manchmal wacht man mitten in der Nacht auf und denkt, dass es da draußen überhaupt nichts und niemanden gibt. Dass alle immer nur gelogen haben – sogar die eigenen Eltern. Und dann fühlt man sich unendlich einsam.»
Amy sah sie nicht an. Sie ging in die Mitte des Rasens. In dem Garten hinter dem Haus gab es weder Büsche noch Blumen. Da wirkte selbst das offene Feld noch anheimelnder, das dahinter lag. Amy blieb stehen und murmelte in Richtung ihrer Füße: «Sie
haben
gelogen.»
«Deine Mom und dein Dad?»
«Sie sind nicht …»
«Doch, das sind sie. Sie wollten dich. Nicht einfach irgendein Baby …
dich
wollten sie. Sie sind eine sehr besondere Sorte Eltern.»
Amy sagte nichts darauf. Sie verschlang ihre Finger ineinander und schien entschlossen, einen Mindestabstand von fünf Metern zu Merrily einzuhalten. Wilden Katzen stellte man eine Schale mit Futter hin, die man jeden Tag ein Stückchen näher ans Haus rückte. Es konnte Wochen und Monate dauern, bevor sie sich berühren ließen.
«Wo sind sie – deine Eltern?»
Amy zog ein Taschentuch aus der Tasche ihres Kleides. Ein richtiges Taschentuch, weiß und ordentlich zusammengefaltet. Sie schüttelte es aus, sodass ein gesticktes
A
in einer Ecke sichtbar wurde, wischte sich über die Augen und putzte sich die Nase.
«Einkaufen», sagte sie dumpf und knüllte das Taschentuch zusammen. «Sie gehen jeden zweiten Samstag in Hereford einkaufen. Sie hat keinen Führerschein.»
«Wie lange sind sie schon weg?»
«Warum wollen Sie das wissen?» Amy bohrte eine Ferse in den Rasen. Dann sagte sie: «Sie sind ungefähr um neun losgefahren. Sie fahren immer um neun Uhr los. Vermutlich sind sie bald zurück.»
«Und du bist zu Hause geblieben.»
«Es gab keinen Grund.»
Es war nicht klar, was sie damit meinte. Zuerst hatte sie nicht wie die Musterschülerin gewirkt, als die sie ihre Mutter und – das war bedeutsamer – Jane beschrieben hatten. Doch da war etwas, das sie daran hinderte, sich zu stark aufzulehnen, und dieses Etwas brachte sie dazu, Merrilys Fragen zu beantworten, obwohl sie es eigentlich gar nicht wollte.
«Könnten wir ins Haus gehen? Was meinst du?»
«Nein!»
Merrily nickte. «Okay.»
«Ich muss nicht mit Ihnen reden.»
«Natürlich musst du das nicht. Niemand muss mit irgendwem reden. Aber oft fühlt man sich danach besser.»
Amy schüttelte den Kopf.
«Du hast früher oft mit Gott geredet, oder?», sagte Merrily. «Ich wette, du hast sogar ziemlich viel mit Gott geredet.»
Die verschlungenen Finger des Mädchens erstarrten, als wären sie plötzlich in Beton gegossen.
«Aber das tust du nicht mehr. Weil du denkst, dass Gott dich betrogen hat. Willst du mir erzählen, wie er das gemacht hat, Amy? Wie du betrogen worden bist?»
«Nein.»
«Hast du es deiner Mom und deinem Dad erzählt?»
Amy nickte.
«Und was haben sie …?» Merrily hielt inne, denn Amy sah sie jetzt direkt an. Ihr offenes, blasses Gesicht hatte eine leicht dreieckige Form, und ihre Wangen wirkten eingefallen. Sie sah nicht gut aus. Sie sah aus wie eine Magersüchtige.
«Es bringt nichts, mit
Gott
zu reden.» Sie zischte das Wort verächtlich. «Gott sagt einem gar nichts. Gott ist Zeitverschwendung. Wenn ich reden will, dann kann ich … mit
ihr
reden.»
Ihre
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