Der Turm der Seelen
dir doch viel mehr als mir. Übrigens fahre ich in die Ferien.» Jane nahm Ethel, die schwarze Katze, hoch und kraulte sie. «Einen ganzen Monat. Hinterher erkennt sie mich nicht mehr.»
«Doch, ganz bestimmt.»
«Egal, abgesehen davon kann ich Irenes Handy benutzen.»
«Ruf an, wann du willst. Egal, wie spät es ist.»
«Alles drin.» Eirion hatte die Kofferraumklappe zugedrückt und stand mit dem Rücken zum Auto. Er hielt seine Baseball-Mütze in beiden Händen und versuchte, sein strahlendes, jungenhaftes Lächeln unter Kontrolle zu bekommen, das eventuell ziemlich uncool rüberkommen könnte.
«Dann los, Spatz.» Merrily übernahm Ethel und ließ sie auf den Rasen springen, wo das Tier ungerührt eine Tatze hob und begann, sie abzulecken. Katzen.
Als sie die beiden zum Abschied am Tor umarmte, hatte sich Eirion kompakt und vertrauenswürdig angefühlt. Janes Gesicht war sehr heiß gewesen.
Jetzt legte Merrily die Münze auf den Tisch. Mit einem Mal stiegen ihr Tränen in die Augen, und in ihrem Brustkorb machte sich ein Gefühl der Leere breit.
Sie war siebenunddreißig Jahre alt.
Sie fragte sich manchmal, ob Janes Vater, der treulose Sean, sie sehen konnte. Sie versuchte sich zu erinnern, ob Sean jemals auch nur im Entferntesten so gewesen war wie Eirion, doch alles, was sie aus der Vergangenheit heraufbeschwören konnte, war ein Gefühlschaos – Betroffenheit, Wut, Niedergeschlagenheit undschließlich leise Zärtlichkeit –, als sie sich sein zwanzigjähriges Gesicht an dem Abend in Erinnerung rief, an dem sie ihm gesagt hatte, dass sie etwas festgestellt hatte, was sich später zu Jane entwickeln sollte.
Ziellos wanderte sie durch die Eingangshalle und betrachtete sich im Spiegel. Sie war inzwischen gute fünf Zentimeter kleiner als Jane. An ihr fiel das einst heißgeliebte
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so lose herunter wie ein Chorhemd.
Sie überlegte, ob sie wieder mit der Münze in die Kirche gehen sollte. Aber es war erst kurz nach fünf Uhr nachmittags, und es konnte gut sein, dass noch ein paar Touristen dort waren. Oder schlimmer, jemand aus dem Ort. Die Pfarrerin wirft am Altar eine Münze? Das wäre im ganzen Dorf rum, bevor der
Black Swan
seine Türen schloss.
Spontan ging sie hinaus zu ihrem Volvo.
Sie würde den Shelbones einen Überraschungsbesuch am Samstagabend abstatten. Weil sie ganz zufällig gerade an ihrem Haus vorbeikam.
Auf dem Friedhof von Dilwyn warfen die Eiben lange Schatten auf die drei Frauen, die aus der Vorhalle der Kirche kamen. Keine von ihnen war Hazel Shelbone, und als Merrily bei dem Bungalow ankam, stand kein Auto in der Einfahrt, und auch die Garage, deren Tor weit aufstand, war leer.
Familienausflug?
Doch als Merrily langsam an dem Haus vorbeifuhr, sah sie eine Bewegung am Ende des Gartenweges, der an der Garage entlangführte.
Sie fuhr noch ein Stück weiter, bis sie am letzten Haus der Straße vorbei war, und parkte den Volvo neben einem metallenen Feldgatter. Dann ging sie zurück zum Bungalow der Shelbones, klingelte und wartete.
Keine Reaktion. O. k. Dann würde sie es an der Hintertür versuchen.
Der Plattenweg, der den Bungalow von der Betongarage trennte, endete an einem niedrigen schmiedeeisernen Türchen. Als Merrily leise hindurchging, hörte sie, wie eine Klinke heruntergedrückt wurde, als ob jemand auf der Rückseite aus dem Haus käme. Als sie um die Ecke des Bungalows bog, stand sie plötzlich vor Amy Shelbone, die aus einer verglasten Veranda gekommen war.
Das Mädchen machte vor Schreck einen Satz zurück. Ihr Gesicht war gerötet und mager, ihre bloßen Arme hingen herab wie tote Zweige, doch ihre Hände waren zu Fäusten geballt.
«Tut mir leid, Amy. Ich habe geklingelt, aber …»
Amy blinzelte mehrmals und atmete keuchend. Sie trug ein ärmelloses gelbes Kleid. Ihr feines, helles Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. An den Füßen hatte sie weiße Gymnastikschuhe, keine Turnschuhe.
«Sie sind nicht da.»
Merrily wandte sich um und schloss das Metalltürchen hinter sich, als ob das Mädchen ausreißen könnte wie ein wildes Kätzchen. «Dann», sagte sie, «könnten wir vielleicht …» Bei diesen Worten bewegte sie sich langsam bis zum Rand des Weges und trat einen Schritt auf den Rasen.
«Nein!» Amy wich in Richtung eines kleinen Gewächshauses zurück, in dem die Reflexion der Sonne hing wie eine Lampe.
« Nein!
Bleiben Sie weg von mir!»
Amy hatte sie also wiedererkannt.
«Schon gut, Amy, ich bleibe hier
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