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Der Turm der Seelen

Der Turm der Seelen

Titel: Der Turm der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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gestanden hatte. Merrily biss sich auf die Unterlippe, lehnte sich zurück und beugte sich endlich zum Boden hinunter, um den unförmigen Penny aus dem Jahre 1797 aufzuheben. Er war zwar aus ihrer Handtasche gerollt, doch sie konnte sich nicht erinnern, ihn hineingelegt zu haben.
    Er tauchte einfach immer wieder auf. Wie ein Unglückspenny.
    «Wenn Sie die Kälte nicht mögen, bleiben Sie am besten aus der Leichenhalle weg»
, hatte Huw Owen gnadenlos gesagt.
    Merrily saß noch eine Weile so da, während Ethel ihr um die Knöchel strich, und rauchte noch eine Zigarette, bevor sie aus dem Pfarrhaus ging.
     
    Es herrschte dieses Leuchten, das noch lange nach Sonnenuntergang anhielt, während der Nordhimmel über den Dächern von Ledwardine und den Hügeln dahinter seine eigene, coole Lightshow abzog. Die Lichter des Dorfes fielen gedämpft durch die Rautenscheiben der Cottages.
    In ihrer knöchellangen Baumwollalbe, eine weiße Kordel lose um die Taille geschlungen, überquerte Merrily das Kopfsteinpflaster und schlüpfte leise durch das Friedhofstor.
    Die Kirche sah aus wie ein riesiger, massiver Klotz, der aus einem schwarzen Gewirr von Grabsteinen und Apfelbäumen in einen Himmel voll lachsfarben und grün geäderter Wolken hinaufwuchs. Als Zugeständnis an den ein oder anderen Touristen war die große Eichentür noch nicht abgeschlossen, doch Merrily ging davon aus, dass sie allein sein würde.
    Ohne die Beleuchtung anzuschalten, ging sie in dem schwachen Licht, das noch durch die Buntglasscheiben fiel und die Enden der Bänke und ein paar Sandsteinpfeiler aufschimmern ließ, langsam durch den Mittelgang. Es war kühl im Kirchenschiff, aber nicht kalt.
    Im Altarraum hinter dem Lettner aus Eichenholz, in den Äpfel geschnitzt waren, zündete sie zwei Altarkerzen an, die mit ihren sanft schimmernden Lichtkreisen den Sandstein zum Leben erweckten.
    Sie legte den alten Penny auf den Altar und segnete ihn erneut.
    Es war, wie ihr jetzt klar wurde, kein Glücksspiel, sondern ein simpler Akt des Glaubens. Des Vertrauens. Viele Pfarrer würden in einem Moment der Krise wohl aufs Geratewohl die Bibel aufschlagen und darauf vertrauen, dass ihnen die Zeilen, die ihnen als erste ins Auge fielen, einen Ausweg zeigen würden.
    Unterschied sich das wirklich so sehr von Janes New-Age-Gurus und ihren Tarot-Karten?
    Der Unterschied bestand im christlichen Glauben. Er machte einen riesigen Unterschied. Oder etwa nicht?
    Das Kerzenlicht bildete einen weich beleuchteten Bereich um Merrily, hinter dem das Kirchenschiff im Grau versank, ebenso wie die Orgelpfeifen und die Bull-Kapelle mit ihrem Grabmal aus dem siebzehnten Jahrhundert. Die Atmosphäre war friedlich und gedämpft; als ob sich die Kirche nach dem langen Tag wieder neu aufladen müsste. Wenn Jane da gewesen wäre, hätte sie bestimmt nicht auf einen süffisanten Hinweis verzichtet.
«Du nutzt hier eine uralte Energiequelle, Mom. Diese Kirche ist auf einem Kultplatz errichtet worden, der schon lange vor der Einführung des Christentums bestanden hat.»
    Vor der Einführung des Christentums vielleicht, hätte Merrily knapp zurückgegeben, aber nicht vor der Existenz Gottes.
    «Der Götter.»
Jane hätte gegrinst wie ein Kobold.
«Und der Göttinnen.»
    Merrily ließ das Bild ihrer Tochter verblassen. Dann kniete sie sich vor den Altar in den Lichtkreis.
    O.   k.
    Sie schloss die Augen, flüsterte das Vaterunser und kniete dann noch mehrere Minuten schweigend inmitten des weichen Lichts, das sie umgab wie eine Aura. Sie erinnerte sich, wie immer in solchen Momenten, an die kleine keltische Kapelle, in der ihre spirituelle Reise begonnen hatte, an das Blau und das Gold und den erleuchteten Pfad.
    Ihre Atmung verlangsamte sich. Ihr wurde heiß vor Spannung, und sie vertrieb diese Empfindung sofort wieder.
    Dann rief sie sich Amy Shelbone vor Augen.
     
    Es vergingen einige Minuten, bis sie das Kind visualisieren konnte. Amy in ihrer Schuluniform, gestärkt und gebügelt, die Krawatte perfekt gebunden, das Haar ordentlich gebürstet, der Teint von fast durchscheinender Blässe. Amy kniete vor dem Altar, wie sie es an dem Sonntag getan hatte, an dem ihr schlecht geworden war.
    Ich weiß überhaupt nichts über sie
, gestand Merrily Gott.
Ich kenne ihr Problem nicht. Ich weiß nicht, ob sie spirituelle Hilfe braucht oder eher einen Psychiater oder einfach nur Liebe. Das alles weiß ich nicht. Ich will ihr helfen, aber ich will mich nicht einmischen, wenn sie das verletzen

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