Der Turm der Seelen
würde
.
Ihre Lippen bewegten sich nicht. Die Worte formten sich in ihrem Herzen.
Ihrem
Herz- Chakra
, würde Jane behaupten: der wichtigsten Gefühlsbahn des Körpers.
Ohne sich weiter stören zu lassen, schickte Merrily Jane weg und schob Amy bis an den Rand ihres Bewusstseins, bis an den Übergang zum Allerheiligsten des Lichtkreises, in dem sie kniete. Sie kniete minutenlang so da, verlor jede Selbstwahrnehmung und öffnete ihr Herz für …
Sie hatte es schon lange aufgegeben, sich Gott bildlich vorzustellen. Es gab keinen Ihn und keine Sie. Es war eine Gegenwart, die über Geschlecht, Rasse oder Religion erhaben war, und die Grenzen des Erfahrbaren überschritt. Alles, was Merrily erhoffen konnte, war, dem erleuchteten Pfad bis an einen Ort in ihrem und zugleich außerhalb ihres Herzens folgen zu können und dort zu warten, geduldig und ohne gezwungene Frömmigkeit.
Wenn – falls – der Moment kam, würde sie fragen, ob Amy zu ihnen in den heiligen Lichtkreis treten durfte.
Amy und …
Justine?
Drei Fragen hatten sich herauskristallisiert, drei Möglichkeiten :
Ist es ein psychologisches Problem? Ist sie von einem Dämon besessen? Wird sie von dem ruhelosen Geist eines verstorbenen Menschen heimgesucht?
Merrily ließ die Fragen aufsteigen wie Dunstwolken und betete still um eine Antwort. Weitere Minuten vergingen; ihr war nur schwach bewusst, wo sie war, und dennoch fühlte sie sich sehr konzentriert und zugleich wieder … abgetrennt … sie fühlte die beinahe schmerzhafte Reinheit und Schönheit der Unterwerfung unter etwas, das unbeschreiblich viel höher stand.
In einem Moment jedoch fühlte sie auch so etwas wie eine Störung, ein Unbehagen – auch wenn sie sich dessen erst später bewusst wurde. Für einen langen Moment verschwand das Kerzenlicht, und der Altarraum wurde in Finsternis getaucht – in eine tiefere Dunkelheit als die übrige Kirche –, und es herrschte eine eisige Kälte, über der die Empfindungen von Verletzung, Unverständnis, Bitterkeit und schließlich allumfassender Trauer lagen.
Sie bewegte sich nicht, dann war der Moment vorbei, und auch Amy Shelbone schien Merrily wieder weiter entfernt denn je.Sie warf die schwere alte Münze, und sie fiel mit einem schweren Plumps auf den Teppich des Altarraums. Merrily musste eine der Kerzen vom Altar zu der Münze tragen, um festzustellen, welche Seite oben lag. Aber das war eigentlich überflüssig, denn sie wusste schon, welche Seite oben liegen würde. Es ging nur noch um die Bestätigung.
Merrily hielt die Flamme näher an die Münze. Die Kerze war inzwischen viel kürzer, und am Kerzenhalter war viel Wachs heruntergelaufen.
Zahl.
Kein Dämon.
Sie warf noch einmal.
Zahl.
Keine Heimsuchung durch einen ruhelosen Geist.
Sie nickte, behielt die Münze in der rechten Hand, blies die Kerzen aus, verbeugte sich vor dem Altar, ging den Mittelgang hinunter und verließ die Kirche.
Es war eisig in der Vorhalle. Auf ihren Armen bildete sich Gänsehaut.
Während sie über den Friedhof ging, fiel Sprühregen vom grauen Himmel, über dem noch ein Lichtschimmer hing, wenn auch kein Mond zu sehen war. Wolken stiegen wie Dampf über dem Obstgarten hinter den Gräbern auf. Es war ein warmer Sommerabend gewesen, an dem sie in die Kirche gegangen war, und jetzt …
Jetzt tauchte eine Gestalt an der Seite der Vorhalle auf. Die Gestalt trug eine Axt über der Schulter.
11 Vor allem ein Mädchen
Der Tau auf dem Grabstein drang durch Merrilys Baumwollalbe und ließ ihre Beine feucht werden. Sie hatte die Arme um den Körper geschlungen, während sie in der einen Hand immer noch den Penny hielt. Sie zitterte.
Verwirrt sah sie auf, folgte mit dem Blick dem Kirchturm, der in einen sternenlosen Himmel zeigte, verstand nicht, wie es da oben so hell sein konnte, obwohl kein Mond zu sehen war.
«Jetzt geht’s aber heim, Frau Pfarrer», sagte Gomer Parry. «Ham sich lang genug hier rumgedrückt.»
Er stützte sich auf seinen Spaten. Es war ein gewöhnlicher Gartenspaten, keine Axt, aber er konnte genauso tödlich sein, dachte Merrily, wenn dieser kleine, drahtige Krieger mit der flachen Kappe und der Bomberjacke es wollte. Merrily war unheimlich froh, dass sich die Gestalt als Gomer entpuppt hatte, doch ihre Lippen weigerten sich zu lächeln. Sie fühlte sich vollkommen substanzlos, leicht wie ein Schmetterling und genauso kurzlebig. Um sich mehr Bodenhaftung zu verschaffen, hielt sie sich an dem abgerundeten Rand
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