Der Turm der Seelen
sich schon denken, worum es geht», sagte der Bischof. Er saß auf der anderen Seite des Schreibtischs auf einem Drehstuhl, sein Hemd in episkopalem Violett spannte erheblich über seinem Bauch. Der Bischof schien sich ziemlich unbehaglich zu fühlen. Kanonikus Beckett wirkte einfach nur niedergeschlagen, wie er da ein paar Schritte entfernt auf dem Besucherstuhl an der Wand saß.
«Dass Dennis hier ist, legt ja gewisse Schlüsse nah.»
«Merrily, haben Sie am Samstagnachmittag diese Amy Shelbone besucht, als ihre Eltern nicht da waren?»
«Na ja, ich …» Merrily warf einen Blick auf Dennis, der auf seine Hände starrte. «Ich wollte eigentlich mit ihren Eltern sprechen. Sie waren – wie Sie ja schon gesagt haben – nicht da. Aber dann habe ich Amy im Garten gesehen. Ich habe versucht, mit ihr über – Sie wissen schon worüber – zu sprechen, oder, Herr Bischof? Dennis hat Sie doch vermutlich über den Hintergrund in Kenntnis gesetzt.»
«Das Kind hat sich in einem Gottesdienst auffällig verhalten, außerdem scheint es hellsehen zu können, und es hat seinen Charakter verändert … das ist jedenfalls die Sicht der Eltern, und das alles zusammengenommen hat sie davon überzeugt, dass ihre Tochter von … einem äußeren Einfluss gelenkt wird. Sie dagegen wirken nicht überzeugt davon.»
Merrily nickte. «Sie schien sich von Gott abgewendet zu haben, aber auf mich hat das eher wie die Reaktion auf eine Enttäuschung gewirkt. Oder wenn es einen äußeren Einfluss gab, dann war es ein sehr irdischer Einfluss.»
«Und Sie haben den Eltern keine Erklärungsmöglichkeiten dafür angeboten, was Amy für neue Einflüsse hätte empfänglich machen können?»
«Ich habe sie gefragt, ob sie einen neuen Lehrer hat oder einen neuen Freund.»
«Freund?»
«Ihre Mutter ist felsenfest davon überzeugt, dass Amy keinen Freund hat.»
«Sie ist ziemlich unreif für ihr Alter», murmelte Kanonikus Beckett.
«Amy ist gestern mit ihren Eltern zur Kirche gegangen», sagte der Bischof. «Wussten Sie das?»
Merrily zog eine Augenbraue hoch. «Nein.»
«Nicht zur Kommunion allerdings. Sie waren in der Morgenandacht.»
«Und da ging es ihr gut?»
«Dennis …?» Der Bischof ließ seinen Drehstuhl zu Dennis Beckett herumschwingen.
«Sie fühlte sich wohl, soweit ich das beurteilen kann», sagte Dennis. «Ich habe sie natürlich ein bisschen im Auge behalten. Sie war ziemlich still und hat die Lieder nur halbherzig mitgesungen. Es kam mir so vor, als hätten sich ihre Eltern am Abend zuvor lange und ernsthaft mit ihr unterhalten. Nach … Mrs. Watkins’ Besuch.»
Der Bischof schwang erneut herum, damit er Merrily direkt ansehen konnte. «Das Kind hat seinen Eltern gegenüber zugegeben, in gewisse Dinge hineingezogen worden zu sein, bei denen auch andere Schülerinnen ihrer Schule eine Rolle spielten. Vor allem ein Mädchen.»
«Dinge?» Merrily legte den Kopf schräg.
«Wissen Sie nichts darüber?»
«Sollte ich das?» Was lief hier eigentlich?
«Es ging um Spiritismus», sagte der Bischof. «Das Ouija-Brett. Um mit den … Geistern Kontakt aufzunehmen.»
«So etwas hat Amy mitgemacht?»
«Halten Sie das für unwahrscheinlich?»
«Im ersten Augenblick schon. Ich hätte sie nicht für diesen Typ gehalten. Viel zu brav. Aber …»
«Brav?»
«Verklemmt, puritanisch, phantasielos, wenn Sie wollen. Aber dann, am Samstagnachmittag, sagte sie sehr verächtlich, dass sie keinen Sinn mehr darin sehe, mit Gott zu sprechen, und wenn sie mit jemandem reden wolle, könne sie das mit einer gewissen Justine tun.»
«Ihre Mutter», sagte Dennis Beckett.
«Wie bitte?»
«Ihre richtige Mutter. Amy ist von den Shelbones adoptiert worden. Ihre richtige Mutter hieß Justine.»
Merrily schloss einen Moment lang die Augen und biss sich auf die Lippe.
«Die angebliche Möglichkeit, mit seiner toten Mutter zu sprechen», sagte der Bischof, «reicht völlig aus, vermute ich jedenfalls, um auch ein noch so
braves
Kind auf spirituell gefährliches Terrain zu locken.»
«Ich war dumm», sagte Merrily und sank tiefer in Sophies Stuhl.
«Waren Sie das?», sagte der Bischof.
«Ich hätte die Verbindung erkennen müssen.»
«Warum?», fragte der Bischof.
«Warum?»
Merrily hätte am liebsten geheult. Auf dem Weg nach Hereford hatte sie sich noch so unheimlich … ja wie? … gläubig? selbstsicher? arrogant? … gefühlt. Sie hatte ihren Skeptizismus beiseitegeschoben, ihr Herz geöffnet … und
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