Der Turm der Seelen
Magdalena mit Polizeimarke gewesen wäre.
Charlie zog seine Autoschlüssel aus der Hosentasche und warf sie von einer Hand in die andere. «Sie haben Bruder Morrell nicht alles erzählt, oder?»
«Ich bezweifle, dass das etwas geholfen hätte. Was glauben Sie?»
«Oh, da haben Sie ganz recht. Es hätte überhaupt nichts geholfen. Aber Sie hätten ihn auch nicht aus den Ferien hierhergerufen, wenn es nicht um etwas ginge, das Ihnen ernsthaft Sorgen macht.»
Merrily sah ihm in die Augen. Sie lagen tief in den Höhlen und blitzten sie mutwillig an.
«Also», sagte sie. «Diese ganze Sache gefällt mir nicht. Mit dem New Age-Zeug kann ich umgehen – ein bisschen Weissagerei, Astrologie, Meditation. Aber mit den Toten Kontakt aufnehmen zu wollen, ist ungesund. Die Toten soll man ruhen lassen.»
«Und wohin gehen die Toten, Merrily? In den Himmel? Die Hölle? Ins Fegefeuer?»
«Nach Leominster, Charlie, das weiß doch jeder. Deswegen ist es in Leominster ja auch so sterbenslangweilig.»
Er grinste. «Also, überlegen Sie sich, ob Sie vor dem Ausschuss sprechen wollen. Ich rufe Sie in ein oder zwei Wochen an.»
Sie sah ihm nach, wie er in seinem staubigen Jaguar davonfuhr. Sie mochte ihn, aber sie war nicht sicher, ob sie ihm auch vertrauen konnte – schließlich war er Mitglied des Stadtrats.
Zurück im Pfarrhaus, blieb sie einen Moment vor dem Bild in der Eingangshalle stehen. Es war ein Kunstdruck von Holman-Hunts
Das Licht der Welt
. Sie hatte das Bild von Onkel Ted geschenkt bekommen, und es zeigte Jesus Christus in gramvoller Milde. Ein Jesus mittleren Alters, der von der Last seiner Erfahrungen mit der Menschheit vollkommen niedergebeugt schien.
Was lerne ich daraus
?
, fragte sie ihn.
Es kommt mir nämlich so vor, als würde ich nur herumpfuschen, jedem auf die Nerven fallen und mit all dem keiner Menschenseele helfen.
Bald legte sich Müdigkeit über Merrily wie eine Abdeckplane. Sie überprüfte den Anrufbeantworter, fand aber nichts Dringendes – und auch keine Nachricht von Jane –, trank ein halbes Glas Wasser und schlief im Salon mit Ethel der Katze auf dem Bauch auf dem großen alten Sofa ein.
Sie träumte, sie sei wieder in ihrer Pfarrkirche.
Es war Abend. Die Sandsteinmauern schimmerten warm im Licht der untergehenden Sonne, und der Apfel in dem riesigen Bleiglasfenster an der Westfassade glühte rot in Evas Hand. Merrilystand in einem grellen, purpurfarbenen Lichtstrahl und hörte beim Beten ihre eigenen Gedanken.
Gott, bitte sag mir: Hat Jane etwas mit der Anrufung der Toten zu tun? Bitte sag es mir. Kopf ist für Ja. Zahl für Nein.
Ihr Daumen schnellte gegen das alte Kupfer; es schmerzte. Die Münze drehte sich tranig in der schweren Luft, hob sich kaum eine Armeslänge, sodass Merrily zurückspringen musste, um das Geldstück nicht versehentlich aufzufangen, als es wieder herunterfiel. Sie sah es auf dem Fliesenboden landen, dann rollte es auf den Mittelgang des Kirchenschiffs zu und in den gähnenden Schlund eines Totenschädels hinein, mit dem eine alte Grabplatte geschmückt war.
Sie spähte in die Vertiefung, konnte nicht ausmachen, ob die Münze Kopf oder Zahl zeigte. Als sie sich hinunterbeugte, wurden die Schatten nur noch schwärzer, und sie erkannte nichts. Sie kniete sich neben den Schädel, doch alles, was sie erkennen konnte, war eine schwarze Leere.
Merrily schluchzte vor Frustration auf. Dann stellte sie fest, dass sie in ihrer Handtasche herumwühlte, die tief im Schatten des Sofas stand, das ihr in dem dämmrigen Licht jetzt mehr wie ein riesiger Katafalk erschien.
«Hallo?»
«Mum …?»
«Jane!» Merrily kämpfte sich in eine aufrechte Position.
«Alles in Ordnung mit dir?»
«Ich … ja klar, alles in Ordnung.»
«Dann ist ja gut.» Janes Stimme klang so leicht und hohl, als würde man auf ein Bambusrohr klopfen.
«Und du? Ist bei dir auch alles in Ordnung?» Merrily kauerte sich auf der Sofakante zusammen. Sie hatte eindeutig das Gefühl, dass bei Jane
nicht
alles in Ordnung war.
15 Höllisch
Jane lag auf Eirions schmalem Bett und betrachtete das letzte Abendlicht am Himmel über dem Meer. Alle möglichen Gefühle gingen in ihr um – Schuldgefühle, Reue, Verbitterung. Aber hauptsächlich war sie wütend, und zwar nicht nur auf sich selbst.
«Was hast du ihr denn erzählt?», flüsterte Eirion.
«Alles. Was hätte ich ihr denn sonst erzählen sollen?»
Eirion hatte das einzige Schlafzimmer für sich beansprucht, das in dem
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