Der Turm der Seelen
verstehst du?»
Lol starrte die Straße hinauf, und Merrily wusste, dass er hoffte, sie so lange aufhalten zu können, bis St. John aus Hereford zurück war.
«Falls du dir Sorgen um mich machst …» Plötzlich war sie nervös und verlegen und tastete in ihrer Tasche nach den Zigaretten. «Ich habe Beistand. Von oben, vom Bischof. Und … von noch weiter oben. Ich meine … weißt du … komm doch mit mir rein, wenn du willst.»
«Rein?»
«Wenn wir es machen. Ich glaube nicht, dass Mr. Stock etwas dagegen hat. Ich habe jedenfalls nichts dagegen.»
Merrily biss sich auf die Unterlippe. Das hatte sie sich vorher nicht überlegt, sondern einfach so spontan gesagt. Jetzt dachtesie noch einmal darüber nach. Ein regelmäßiger Rat für Grenzfragen-Seelsorger war, zu einem Exorzismus möglichst ein paar gute Christen mitzunehmen und am besten noch einen zweiten Pfarrer. Als Rückendeckung. Sie hatte keine Ahnung, als welche Art Christ man Lol bezeichnen konnte, aber wenigstens
lebte
er hier, wenigstens
kannte
er Gerard Stock … und, ganz gleich wie Lol über die Glaubenslehren oder die Geistlichkeit im Allgemeinen dachte, Merrily wusste inzwischen, dass sie ihm vertrauen konnte. Immer.
Die Motorhaube unter ihrer Soutane war warm. Merrily sah zu den Wolkenfetzen über der kleinen Kirche von Knight’s Frome empor und ließ ihren Blick dann wieder zu Lol wandern. Es war Zufall, dass sie sich hier getroffen hatten. Vertreter der charismatischen Bewegung jedoch, wie zum Beispiel der berüchtigte Nick Ellis, erkannten noch im unbedeutendsten Zufall einen Fingerzeig Gottes.
«Man kann den Exorzismus eines Gebäudes von zwei Seiten betrachten, weißt du», erklärte sie. «Es geht hier nicht um Müllbeseitigung, Seuchenbekämpfung oder eine Rattenplage … sondern wir helfen einer verirrten Wesenheit … einem Geist … einer Seele zurück auf den rechten Weg. Ich will damit sagen, dass wir das möglicherweise weniger für Gerard Stock als für Stewart Ash tun.»
«Den keiner von uns beiden kannte.»
«Jeden Tag sind Geistliche im ganzen Land verpflichtet, Leute zu beerdigen, die sie nicht kannten. Sie müssen sich vor trauernde Angehörige stellen, die sie vorher möglicherweise nur ein einziges Mal gesprochen haben», sagte Merrily. «Vielleicht lernen wir ihn ja heute kennen.»
Lol fuhr erschrocken auf.
«Es ist bekannt, dass derjenige, dem der Exorzismus gilt, sich dabei oft ein letztes Mal zeigt», sagte sie, «und dann … Friede.»
«Hi!»
Stephanie Stock sprang von dem alten Ledersofa auf. «Es ist wirklich unheimlich schön, Sie endlich kennenzulernen.»
Im Wohnzimmer des Darrenhauses brannten ein Deckenlicht und zwei weitere Lampen. Doch auch sie vermochten nicht, die Helligkeit eines Sommertages zu verbreiten. Die Wände waren weiß gestrichen worden, aber das Mobiliar war alt und schwer. Überraschenderweise war das Strahlendste im Raum nicht Stock in seinem weißen Hemd, sondern seine Frau. Sie drückte Lol die Hand und sah ihm lächelnd in die Augen.
«Ich hab Gerard immer damit in den Ohren gelegen, Sie mal einzuladen! Ich hatte das Hazey Jane-Album, als ich noch in der Schule war, und ich
vergehe
beinahe vor Neugier darauf, was Sie inzwischen gemacht haben. Schließlich sehen Sie nicht … ich meine, Sie sehen ja richtig
gut
aus!»
Lol blinzelte. Stephie Stock trug ein kurzes weißes Sommerkleid, das schon mehr an einen Tennis-Dress erinnerte. Sie war erheblich jünger und wesentlich lebhafter als ihr Ehemann, der aus der Nähe betrachtet genauso grau und fertig aussah, wie man es nach dem vergangenen Abend im
Hop Devil
erwarten konnte.
Sie ist eine graue Maus
, hatte Simon St. John abfällig gesagt.
Was für eine Frau würde Stock sonst schon heiraten?
«Steph, das ist Merrily Watkins», sagte Stock. Das war ein ganz anderer Stock, nüchtern und zurückhaltend. Er hatte keine Einwände gegen Lols Anwesenheit erhoben und auch keine Überraschung darüber gezeigt, dass Lol und Merrily sich kannten. Lol hatte das Gefühl, dass Stock hauptsächlich erleichtert war, weil Merrily nicht St. John mitgebracht hatte.
Langsam gab Stephanie Lols Hand frei und ließ dabei ihre Fingerspitzen bis zu seinen gleiten. Dann sah sie Merrily an, und ihr breiter Mund verzog sich zu einem schrägen Grinsen. «Wissen Sie, es ist immer noch ziemlich komisch, eine Frau in der …»
«Steph ist katholisch erzogen», sagte Stock eilig. «War sogar
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