Der Turm der Seelen
dort auch mehrere Hopfenkrippen.» Lol spürte, dass sich Merrily unsicherer fühlte, was diese Aktion anging, seit sie Mrs. Stock begegnet war. Er fragte sich, ob er ihr von der Hopfenfrau erzählen sollte.
Er musterte die alten Backsteinwände des kreisförmigen Raums. Manche Steine waren von dem Brennofen beinahe schwarz verfärbt. Man fühlte sich wie in einem überdimensionalen Kamin, und es war auch beinahe genauso dunkel wie in einem Kamin. Abgesehen von dem Herd und einem hohen, vibrierendenKühlschrank, schien hier fast alles noch aus der Hopfenzeit zu stammen. Sogar die Geschirrborde wirkten alt und fleckig.
«Okay», sagte Merrily leise. Sie sah sich in der Küche um, nahm eine Kaffeetasse aus einem Regal und stellte sie in die Mitte des Tisches. Dann beugte sie sich zu ihrer Airline-Tasche hinunter, nahm eine kleine Dose heraus, trat einen Schritt zurück und schloss die Augen.
Lol ging ein bisschen von ihr weg und starrte auf seine Turnschuhe hinunter. Er konnte kaum fassen, in welche Situation er hier geraten war. Er kam sich natürlich privilegiert vor, weil er dabei sein durfte, aber deshalb fühlte er sich ihr kein bisschen näher. Sie war jetzt ganz Hochwürden Watkins.
Merrily sagte leise: «Wir sind gekommen, um diesen Ort zu segnen und darum zu beten, dass die Anwesenheit Gottes hier bewusst empfunden werden kann. Wir beten darum, dass alles Böse und Unreine von hier vertrieben werde. Als Symbol für die strömende und reinigende Kraft des Heiligen Geistes, die wir für diesen Ort erbitten, benutzen wir dieses Wasser. Das Wasser wurde durch Christus dazu bestimmt, beim Sakrament der Taufe eingesetzt zu werden …»
Sie goss Wasser aus dem Fläschchen in die Kaffeetasse und flüsterte Lol zu: «Wir wappnen uns gegen alles, was hier vielleicht noch anwesend ist.»
Er nickte. Der Kühlschrank brummte.
«Herr, allmächtiger Gott, Schöpfer des Lebens, segne dieses Wasser. Indem wir es im Vertrauen auf dich benutzen, vergib uns unsere Schuld, hilf uns in Zeiten der Krankheit und beschütze uns vor dem Bösen.»
Merrily bekreuzigte sich, schlug die Augen auf und nahm die kleine Dose in die Hand. Sie schraubte den Deckel ab: Salz. Sie segnete das Salz und streute ein bisschen davon in das Wasser. «Wasser zur Reinigung», erklärte sie Lol mit leiser Stimme. «UndSalz als Symbol der Erde. Eine mächtige Kombination. In jeder Religion.»
Merrily trat von dem Tisch zurück. «Kannst du dich darauf einlassen, Lol?»
Lol nickte.
«Am besten schaltest du die Logik aus.»
«Kein Problem.»
Merrily legte kurz ihre rechte Hand auf seine. Ihre Finger waren kühler als die von Stephanie Stock. Das spärliche Licht, das beim inzwischen nahezu senkrechten Stand der Mittagssonne hereinfiel, brach sich in ihrem Brustkreuz. Lol musste an Vampire denken.
«Ich glaube, wir können sie jetzt hereinholen», sagte Merrily.
20 Die Metaphysik
Berichten zufolge erschienen Verstorbene vor allem bei Seelenmessen, manchmal standen sie sogar neben dem Pfarrer. Dabei sollten sie ganz natürlich wirken, wie ein zusätzliches Mitglied der Gemeinde.
Und manchmal sollten sie gegen Ende der Messe lächeln.
Aus
Dankbarkeit
. Und zwar für die Erkenntnis, wie sinnlos und stumpfsinnig ihr Verharren in der Sphäre zwischen Leben und Tod war.
«In neun von zehn Fällen»
, hatte Huw Owen seinen Schülern erklärt,
«werden sie Ihnen keinen Widerstand entgegensetzen. Sie werden nicht gegen Sie kämpfen. In den meisten Fällen wird Ihr Eintreffen sogar mit derselben Erleichterung quittiert, mit der man den Krankenwagen an einer Unfallstelle auftauchen sieht.»
Und deshalb zeigten sie sich manchmal. Lächelnd.
Merrily allerdings hatte das noch niemals selbst erlebt – möglicherweise war sie aber auch nicht sensibel genug, um es mitzubekommen.Nervös war sie allerdings immer, bevor es losging. Wer war sie schon, dass sie es sich erlauben konnte, auf der Grenzmauer zum Jenseits herumzutanzen?
«Und nie, nie, niemals Nerven zeigen»
, hatte Huw Owen die Kursteilnehmer ermahnt.
«Allerdings dürfen Sie ihnen auch nicht das Gefühl geben, dass Sie ein nettes kleines Kaffeekränzchen mit ihnen abhalten wollen.»
Es war ein Balanceakt, diese Konfrontation mit dem Tod.
Eigentlich hatte sich Merrily auf eine Seelenmesse für Stewart Ash eingestellt. Der Esstisch, die umgewandelte Hopfenkrippe, sollte ihr Altar sein. Sie hatte darauf einen kleinen Kelch mit Wein gestellt, den sie in ihrer Airline-Tasche mitgebracht
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