Der Turm der Seelen
hatte, ebenso wie eine Tupperdose mit Hostien.
Aber dann – das Vorrecht eines weiblichen Priesters? – änderte sie einfach ihre Meinung.
«Sie sollten nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen»
, hatte Huw mehr als ein Mal betont.
«Sie sollten nicht mal eine Steinschleuder rausholen, wenn sie den Spatz mit der Hand fangen können.»
Also erklärte sie den Stocks, dass nicht genügend Leute für eine richtige Messe da wären – nicht genügend überzeugte Christen (das sagte sie aber nicht laut). Sie schlug stattdessen zunächst ein Gebet vor, um die Seele Stewart Ashs an Gott zu empfehlen, dann vielleicht noch ein Gebet, um Reue im Täter zu wecken, danach sollte jeder Raum mit Weihwasser gesegnet werden.
Wenn all dies keine Wirkung zeigte, sollte ein Seelenamt für Stewart Ash der nächste Schritt sein.
Gerard Stock hatte zu ihren Worten genickt – schließlich war sie die Expertin.
In dem ansonsten stillen Darrenhaus wirkten die an- und abschwellenden Kühlschrankgeräusche wie das Zeichen einer unbeständigen Anwesenheit; als wollte das Vibrieren und Brummen Merrily etwas sagen.
«Vater unser …»
Es war und blieb das kraftvollste Gebet von allen, an sich schon ein Exorzismus. So sollte man immer anfangen.
Und wie machte man von dort aus weiter … tja, man musste sich immer auf seine Intuition, sein Gefühl, seine Wahrnehmung verlassen … und immer daran denken, dass man im Grunde nicht selbst handelte. Man war nur die Marionette, besaß keinerlei eigene Macht. Man konnte nur auf Zeichen reagieren.
In die Küche des Darrenhauses fiel so viel Sonne wie unter diesen Umständen nur möglich. Der Kühlschrank vibrierte immer noch. Der Zeitpunkt schien richtig gewählt; beinahe Mittag, da gab es keine Schatten. Nichts Düsteres.
Merrily trug das Gebet wie im Gespräch vor und hob ihre Stimme nur bei dem einen entscheidenden Satz ‹… und erlöse uns von dem Bösen.›
Uns
.
Sie standen zu viert im Halbkreis in diesem schlecht beleuchteten Backsteinkamin. Gerard Stock mit zurückgenommenen Schultern, die Augen geschlossen, die Lippen hinter dem dichten Bart unsichtbar. Aber Merrily wusste, dass Gerard Hintergedanken hatte – die seinen feuchten Rosenlippen bestimmt nicht entschlüpfen würden. Irgendetwas wütete in ihm, wie ein Feuer in einem backsteingemauerten Glutofen. Merrily spürte Wut und Frustration, die durch seine Angst ins Unerträgliche gesteigert wurden. Sogar dem Journalisten Fred Potter war das aufgefallen. Doch wovor genau fürchtete sich Gerard?
«Für jetzt und alle Zeit. Amen.»
«Amen», kam das Echo von Gerard Stock und Lol.
«Tschuldigung», Stephanie kicherte. «Amen.»
Klosterschülerin, was?
Es war offensichtlich – und das konnte durchaus bedeutsam sein –, dass Gerard Stock Eheprobleme hatte. Stephanies Augenblitzten, auf ihren Lippen lag die Andeutung eines Lächelns – sie nahm die Sache nicht ernst, und es war ihr vollkommen gleichgültig, ob das jemand mitbekam. Zwischen ihr und Stock bestand ein Altersunterschied von etwa zwanzig Jahren. Möglicherweise war er schlank, attraktiv und erfolgreich gewesen, als sie sich kennenlernten – glamouröse Partys, angesagter Bekanntenkreis. Jetzt allerdings wirkte er verblüht und am Ende – jedenfalls, was die Karriere anging.
Stephanie stand zwischen den beiden Männern, aber näher bei Lol, sodass sich manchmal sogar ihre Schultern berührten. Und Stephanies Schultern waren nackt, der Träger ihres Kleides rutschte ständig herunter, und Merrily spürte das Aufflammen von …
Welches Gefühl das auch immer sein mochte, sie unterdrückte es. Sie war hier schließlich die Pfarrerin.
Also gut: die Metaphysik.
War der Übergang Stewart Ashs einfach nur zu plötzlich vor sich gegangen? Merrily schoss ein schreckliches Bild durch den Kopf, in dem Stewarts Geist zuckend und kämpfend ausfuhr, während der Schädel
krach, krach, krach
immer wieder auf die Bodenfliesen geschmettert wurde, eine Implosion splitternder Knochen und sterbender Gehirnzellen. Huw Owen hatte gesagt:
«Die meisten umgehenden Geister sind
Abdrücke,
die vom atmosphärischen Schock eines plötzlichen Todes gebildet werden. Ein gewöhnlicher
Abdruck
ist kein besonderes Problem – man könnte ihn auch eine Art Laterna-magica-Erscheinung nennen. Es sind die
Ruhelosen
und
Schlafwandler,
die größere Aufmerksamkeit verlangen.»
Oder wurden diese Räume, wie Gerard Stock angedeutet hatte, von einer übermächtigen Aura
Weitere Kostenlose Bücher