Der Turm der Seelen
weil sie von Stewart Ashs Anwesenheit nicht das Geringste spürte. Doch nun wirkte das Darrenhaus einengend, stickig und erdrückend, und als sich der Kühlschrank mit einem klirrenden Vibrieren wieder höher schaltete, wusste sie mit einem Mal, was sie vergessen hatte.
Sie sah, dass Lol sie alarmiert beobachtete. Sie legte eine Hand an den Hals und schluckte. Ihr Rachen brannte. Sie keuchte, es stank nach Schießpulver, faulen Eiern und billigen Feuerwerkskörpern aus ihrer Kindheit, – eine Mischung, die ihr die Kehle verätzte wie der glühende Strahl einer Lötlampe, der heiße Atem aus der Hölle.
21 Das Schwefelblech
Schwefel?
Während sie um Atem rang, fragte sie sich:
Erlebe ich das gerade wirklich?,
und wandte sich zum Herd, um festzustellen, ob schwarze Rauchwolken aus ihm herausquollen.
Keine Rauchwolken.
Dann Lols Stimme: «Merrily …?»
Seine normale Stimme, kein Keuchen, kein Husten. Er hatte gar nichts bemerkt, keiner der anderen hatte etwas bemerkt. Sie begann im Kopf das Schutzgebet St. Patricks Harnisch abzuspulen:
Christus sei bei mir, Christus sei in mir …
Die Hand vor den Mund geschlagen, durchquerte sie den Raum, zog die Tür auf, die zu dem Hopfenlager führte, das inzwischen in ein Wohnzimmer verwandelt worden war, und arretierte sie mit Hilfe eines Stuhls.
Christus sei hinter mir, Christus sei vor mir …
In Gedanken hörte sie Huw Owens Stimme: «Was haben Sie vergessen, Merrily?» Huw, der sie in einer viktorianischen Kapelle in den Brecon Beacons auf Herz und Nieren prüfte.
«Die TÜREN! Alle … von der Katzenklappe bis zum Geschirrschrank … alle müssen offen und arretiert sein. Nehmen Sie das ernst, das ist kein Witz! Tun Sie es. Öffnen Sie die Türen und verkeilen Sie sie! ÖFFNEN UND FESTKEILEN!»
Sie öffnete die Tür des riesigen alten Kühlschranks … innen erwachte ein kaltes, weißes Glühbirnchen flackernd zum Leben. Die schwere Tür wollte wieder zufallen, und sie nahm zwei Flaschen Chardonnay aus dem Kühlschrank und klemmte die Tür damit fest. Als sie sich wieder dem Raum zuwandte, sah sie, dass Lol auf sie zukam.
Sie krächzte:
«Nein!»
Einer von ihnen musste an den Hopfenkrippen-Tisch gestoßensein, denn der Kelch kippte um, und der rote Wein lief über das gefurchte Holz. Warum hatte sie das Sakrament nicht weggeräumt, als sie beschlossen hatte, doch kein Seelenamt abzuhalten? Warum hatte sie das nicht getan?
Mit einem schnellen Griff brachte sie das Fläschchen mit Weihwasser in Sicherheit, während der verschüttete Wein auf den Fliesenboden tropfte und sich in dem Umriss des großen Blutflecks von Stewart sammelte.
Als sie wieder ein Wort herausbrachte, sagte sie: «Es ist alles in Ordnung. Es war etwas anderes, als ich erwartet hatte.» Ihre Stimme klang heiser und schrill, kein bisschen beruhigend.
Was sie gemeint hatte, war:
Das hier hatte nichts mit Stewart Ash zu tun.
Irgendetwas anderes war im Raum, spielte mit ihrer Wahrnehmung, aber Stewart war es nicht.
«Gewähre, Herr …» Sie brach ab und holte tief Luft, als sie Weihwassertropfen aus ihrem Fläschchen in einem staubigen Sonnenstrahl aufblitzen sah. «Gewähre, Herr, allen, die in diesem Raum arbeiten, dass ihr Dienst an anderen zugleich auch ein Dienst an Dir ist.»
Doch mit
ihrer
Stimme klang dieser Küchensegen so kräftig wie verwässerte Milch. Sie hatte es vermasselt. Sie war unvorbereitet gekommen, das war unverzeihlich, sie war skeptisch gewesen, sie war mit den Gedanken woanders gewesen, und was auch immer hier im Raum schwebte, hatte das erkannt und sich auf sie und nur auf sie gestürzt.
Was ist es? Was ist hier? Wer bist du?
Sie räusperte sich; ihre Hand, in der sie das Fläschchen hielt, zitterte. Sie hatte immer noch den Schwefelgeschmack im Mund. Stephanie Stock beobachtete sie leicht amüsiert, als ob sie sich die ganze Szene genau einprägte, um sie auf der nächsten Party als Anekdote zum Besten zu geben – Stephies großartiges Erlebnis mit dem durchgedrehten Weib, das sich für eine Exorzistin hielt.
«Das Wohnzimmer», sagte Merrily.
Gerard Stock nickte. Dann richtete er seinen Blick auf die kleine Weinpfütze auf dem Boden, die nun zu einem Fleck auf einem Fleck wurde.
Zufall?
Zufall!
Aber Stock schwitzte, das war deutlich zu sehen. Ich habe es freigesetzt, dachte Merrily entsetzt, ich habe es durchgelassen. Es ist durch mich aufgetaucht! Ihr war bewusst, dass Lol sie so intensiv musterte, als wären sie allein im Raum.
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