Der Überläufer: Tweed 3
Brücke, die Strömbron-Brücke, und Dillon war verschwunden.
Der Russe konnte es nicht fassen. In der Entfernung, weiter unten am Ufer, ragte die eindrucksvolle Fassade des
Grand Hotel.
Die orangefarbenen Sonnenblenden der Erdgeschoßfenster waren eingerollt. Die Hotelfront war beleuchtet, und hoch oben unter dem Dach duckten sich die Giebelfenster der Zimmer in der sechsten Etage. Hinter den geschlossenen Vorhängen eines dieser Fenster war Licht. Poluschkin konnte nicht wissen, daß er zu Tweeds Schlafzimmer hinaufstarrte.
Poluschkin suchte die ganze Gegend längs des Ufers ab, ging an den weißen Passagierbooten vorbei, die vor dem
Grand Hotel
vertäut lagen, und ging denselben Weg wieder zurück. Er mußte die Tatsache zur Kenntnis nehmen: Dillon war ihm durch die Lappen gegangen. Der Amerikaner hatte irgendeinen Zaubertrick angewendet.
»Es gibt immer ein erstes Mal …« Die spöttischen Worte Magdas fielen ihm ein, und er fluchte innerlich. Dann faßte er einen Entschluß – den für ihn einzig möglichen. Er ging weg vom Flußufer und marschierte rasch zurück, bis er das Haus Karlavägen 72 C erreicht hatte.
Poluschkin richtete sich auf ein längeres Warten ein, drückte sich in den Hauseingang von 728. Falls die Polizei kam, würde er sagen, er warte auf seine Freundin, weil er keinen Hausschlüssel habe. Er hatte kaum über diese Möglichkeit nachgedacht, als ein Streifenwagen an den Gehsteigrand fuhr und ein Polizist, der neben dem Fahrer saß, ausstieg.
»Ich hätte gern einen Ausweis von Ihnen gesehen«, sagte der Polizist und musterte ihn scharf.
Der Russe wies seinen Führerschein vor, der auf den Namen Bengt Thalin ausgestellt war und seine Fotografie trug. Der Beamte gab ihn ihm zurück und stützte einen Arm gegen eine Säule.
»Wollen Sie mir sagen, was Sie hier machen?«
»Es ist ein bißchen ungewöhnlich, Inspektor, ich warte auf meine Freundin – sie hat den Hausschlüssel.«
»Und jetzt überlegen Sie nicht lange: wie heißt sie?«
Darauf war Poluschkin vorbereitet. Von den Namensschildern neben den Klingelknöpfen hatte er sich bereits eine Karin Virgin ausgesucht. Doch das sollte nur der letzte Rettungsanker sein. Gib der Polizei nie zu bereitwillig Auskunft.
»Das ist mir ziemlich unangenehm«, begann er und schwieg.
»Unangenehm in welcher Hinsicht?«
»Sie ist verheiratet, und ihr Mann ist nicht da.«
»Sie vertraut Ihnen den Schlüssel nicht an?«
»Es ist erst das zweite Mal.«
»Und spätestens beim dritten Mal ändert der Gatte seinen Stundenplan – man kennt das«, warnte der Polizist, ging zurück zum Streifenwagen und fuhr davon.
Fünf Minuten später kam Dillon den Karlavägen herunter und stieg die Stufen zu 72 C hoch. Poluschkin hörte, wie er mit den Schlüsseln hantierte, eine Tür ging auf, schloß sich. Er schaute auf die Uhr. Cord Dillon war für genau fünfundzwanzig Minuten verschwunden gewesen. Poluschkin war entschlossen, das in seinem Bericht an Magda Rupescu auszulassen.
Um so mehr, als die Rupescu viel Wind von der Sache machen würde, sagte er sich, auf der Straße zurückgehend. Er war sicher, sie würde diese Panne nach Moskau melden. Was brachte es, wenn er ihr Gelegenheit gab, ihn fertigzumachen? Und alles wegen einer lächerlichen halben Stunde.
Doch Poluschkin unterlag einer gewaltigen Fehleinschätzung. Die fehlenden fünfundzwanzig Minuten waren der Schlüssel zum Fall Procane.
25
Am folgenden Morgen hielt General Lysenko in Tallinn einen Kriegsrat ab, wie er das Treffen nannte. Drei Männer fanden sich um 7 Uhr morgens in Oberst Karlows Büro ein: Lysenko, sein Gehilfe Rebet und Karlow selbst.
Der General hatte von einem Tag auf den anderen sein Hauptquartier von Leningrad nach Tallinn verlegt. Ohne jede Vorwarnung. Er brach einfach mit seinem Stab über die estnische Hauptstadt herein und richtete sich im Gebäude in der Pikk-Straße häuslich ein.
»Wir nähern uns dem Höhepunkt der Operation«, begann Lysenko. »Sie sind nicht dieser Ansicht, Oberst?«
»Sicher, in Stockholm tut sich einiges.« Karlow legte drei große Fotos auf der Schreibtischplatte aus. »Wir wissen, daß sowohl Cord Dillon als auch Stilmar in der schwedischen Hauptstadt sind.
Es gibt starke – wenn auch unbestätigte – Gerüchte, wonach General Dexter vorhaben soll, Schweden einen geheimen Besuch abzustatten, um mit Militärs zu konferieren …«
»Und einer dieser Männer muß Procane sein«, sagte Lysenko mit großer Emphase. »Ich weiß, wohin
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