Der Überläufer: Tweed 3
noch vor den amerikanischen Präsidentenwahlen im November zu uns überläuft, können Sie sich den Effekt vorstellen, den das hätte? Es könnte verhindern, daß dieser sture Reagan ein zweites Mal an die Macht kommt. Sehen Sie also, warum das zum Ereignis des Jahrhunderts werden kann?«
Lysenko war soeben mit dem Flugzeug von Moskau nach Tallinn gekommen, um sicherzugehen, daß Oberst Karlow die Bedeutung der Nachricht richtig begriff.
Tallinn ist ein Ort, dessen genaue Lage wohl nur wenige Menschen im Westen angeben könnten. Als einstige Hauptstadt der Republik Estland liegt es am Finnischen Meerbusen, nur etwa sechzig Kilometer gegenüber von Helsinki. Für Moskau ist diese kleine baltische Sowjetrepublik eine Art Pulverfaß. Die Esten mögen die Russen nicht und betrachten sie als eine Art Besatzungsmacht.
Das Fernsehen vermag dem nicht abzuhelfen. Die Esten wohnen nahe genug den Finnen, um deren Fernsehprogramm zu empfangen. Und das Leben, das auf den finnischen Bildschirmen erscheint, ist ein völlig anderes, reicheres, freieres.
Diese Tatsache hatte im laufenden Jahr 1984, während der Olympischen Spiele in Los Angeles, ironischerweise zur Folge, daß sich in Tallinn massenweise Leute vom KGB und aus hohen Parteigremien aufhielten, weil sie von da aus die Spiele im finnischen Fernsehen mitverfolgen konnten. Aus diesem Grund und aus anderen, naheliegenderen und gefährlicheren Anlässen war Oberst Karlow von der militärischen Abwehr (GRU) von seinem Chef General Lysenko schon einige Zeit vorher nach Tallinn beordert worden.
Der General ähnelte in der Statur dem während des Zweiten Weltkrieges berühmt gewordenen Marschall Shukow. Er war klein und gedrungen. Auch die brutale Selbstsicherheit, die er an den Tag legte, ebenso wie der plumpe Sinn für Humor, den er oft auf Kosten seiner Untergebenen einsetzte, waren Eigenschaften, die man Shukow nachgesagt hatte. Er war siebenundsechzig Jahre alt.
Da war der erst zweiundvierzig Jahre alte Andrei Karlow ein Mann von ganz anderem Kaliber – ein Mann der neuen Generation, der insgeheim die Alten als Fossilien betrachtete.
Karlows Erscheinung war ebenfalls eine völlig andere. Groß und schlank, mit einem langen, schmalen, glattrasierten Gesicht, in dem ein vortretendes Kinn und wachsame Fuchsaugen auffielen.
Wenn Lysenko seinen Untergebenen ärgern wollte, dann nahm er auf diese Augen Bezug und nannte ihn »Fuchs«.
Beide Männer gehörten dem GRU – auf russisch
Glawnoje Radswedjwatelnoje Uprawlenije
– an, also dem obersten Direktorium der militärischen Abwehr des Sowjetischen Generalstabes. In England wären sie die Chefs der militärischen Abwehr gewesen.
Die beiden starrten einander über den Tisch des Büros hinweg an, das Karlow bei seiner Ankunft vor mehreren Monaten im ersten Stock eines Gebäudes in der Pikk-Straße mit Beschlag genommen hatte. Beide trugen aus Sicherheitsgründen anstelle der GRU-Uniform Zivilkleidung.
Lysenko gab sich arrogant, wenn nicht überheblich. Demgegenüber wahrte Karlow äußerlich seine respektvolle Haltung, sehr darauf bedacht, seinem Vorgesetzten keinen Anlaß zur Rüge zu geben. Innerlich kochte er vor Wut. Zuneigung gab es in der Beziehung der beiden Männer, die gerade in einer aufkommenden Krise ein harmonisches Gespann hätten bilden sollen, nicht. Es war Lysenko, der schließlich wieder das Wort ergriff.
»Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, Genosse.«
»Ich ging gerade alle Zusammenhänge durch – um eine korrekte Antwort zu geben. Als ich an der Botschaft in London war, erhielt ich – aus unbekannter Quelle – eine Reihe von Informationen, das amerikanische MX-Programm – auch »Star-Wars«-Programm genannt – betreffend. Von diesem Mann, der sich Adam Procane nennt. Ich gab alle diese Informationen an Moskau weiter, wo sie, soviel ich weiß, als wertvoll eingestuft wurden. Solche Informationen konnten nur von jemandem kommen, der an sehr hoher Stelle im Nationalen Sicherheitsrat oder in der CIA saß.«
»Und dennoch«, wandte Lysenko ein, »haben wir, nachdem wir das gesamte Personal nicht nur des Nationalen Sicherheitsrates und der CIA, sondern auch des Pentagon durchleuchtet haben, herausgefunden, daß eine Person dieses Namens nicht existiert. «
»Procane ist daher, das ist klar, ein Code-Name«, bemerkte Karlow. »Mich würde diese letzte Nachricht interessieren, die Sie aus Paris erhalten haben.«
»Nichts als ein Gerücht – aber ein starkes Gerücht. Adam Procane trifft
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