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Der Überlebende: Roman (German Edition)

Der Überlebende: Roman (German Edition)

Titel: Der Überlebende: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst-Wilhelm Händler
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Station, habe er sich die Ergebnisse der neuen Untersuchungen schicken und der Ärztin ausrichten lassen, sie solle uns schnell Bescheid geben.
    Ein heller Horizont! Die Sonne würde aus dem Boden schießen! Ihre Strahlen würden die Äste des Baums vor dem Krankenzimmer versengen, die Plane vor dem Loch in der Fassade würde schmelzen und herabtropfen, keine kleinen Feuer mehr, nur noch ein großes, tosend! Wenn die neuen Untersuchungen lediglich die vorangegangenen bestätigt hätten, dann wäre das doch kein Anlass für diese halsbrecherische Eile gewesen?
    Du aber frösteltest. Mit der linken Hand rafftest du das Nachthemd, als sei es ein langes, wallendes Kleid, in dem du über unwegsames Gelände gingst, die Finger der rechten umschlossen noch die leere Dessertschale wie eine große gepflückte Blüte.
    Die maximal ungeschickte Ärztin – hatte man sie deswegen zum Nachtdienst eingeteilt? Was war, wenn eine Krankheit nicht schlief? – balancierte Block und Bericht auf ihrer Schreibunterlage. Deine und meine Augen wanderten hin und her mit ganz verschiedenen Blicksorten. Die Ärztin kicherte zerstreut. Ich: wortloses Wittern. Du: ratloses Wittern. Die Todesangst davongeflogen – oder entschlafen?
    Mein Brustkorb viel zu klein für das, was jetzt drin wohnte. Deine Hoffnung flatternd, zappelnd.
    Ein paar ganz schnell gehaspelte Worte. Aha, das Stolpern war der Lebensmodus der Ärztin. Wir merkten uns nur zwei, die anderen hörten und verstanden wir ebenfalls, aber wir beschlossen, sie sofort zu vergessen.
    Das eine Wort: ALS.
    Das andere Wort: Irrtum.
    Du sahst sie noch nicht, die andere Welt, spürtest nur ihren Anhauch, hattest eine vage Vorstellung davon, wie groß der Raum sein musste, damit er den hellen Horizont beherbergen konnte und die Sonne samt Sommerblumen.
    Du gingst in die Knie, nein, du knietest dich hin. Die Ärztin, aus ihrem Taumelkonzept gebracht, stierte dämlich. Du nahmst den Kopf zurück, strichst dir die Haare nach hinten und fasstest dir, die Ellenbogen hoch erhoben, in den Nacken. Du spiegeltest dich in dem, was kommen würde.
    »Die Symptome sind die gleichen.«
    Entgeistert biss sich die Stolperin auf die Lippen, hatte sie es doch tatsächlich fertiggebracht, einen ganzen, geraden Satz zu äußern. Sie führte eine Hand zum Grübeln an die Stirn, damit ihr der Schreibblock wieder von der Unterlage fiel.
    »Wir haben gedacht …« – ein deutscher Professor namens Jangor hatte gedacht. Es ist ja nur zum Spaß gewesen. Natürlich sagte sie das nicht, aber sie sprach in einem Ton, als ob sie eine Anekdote erzählte. Du hattest gar nicht ALS, du hattest TSP, tropische spastische Paraparese. Sie wird durch ein Retrovirus, HTLV-1, verursacht. In Deutschland hatte es seit Jahren keinen Krankheitsfall mehr gegeben, nur ein Prozent der HTLV-1-Infizierten erkrankt im Laufe des Lebens, man steckt sich auf die gleiche Weise an wie mit HIV, dem Erreger von AIDS.
    »Die Symptome unterscheiden sich nicht von denjenigen bei ALS.«
    Die Ärztin lächelte verzeihungsheischend.
    »Aber es gibt einen Unterschied: TSP ist behandelbar, ALS nicht.«
    Die Ärztin gab sich jetzt schreiend gut gelaunt.
    »HTLV-1 spricht auf dieselben Medikamente an wie HIV.«
    Schwungvoll klappte die Ärztin ihren Bericht zu. Amüsiert euch!
    Wir hätten als Sieger paradieren, mit den Lebensaussichten schäkern können. Doch es lag uns fern, eine pompöse Wiedersehensfeier mit deinem Leben zu veranstalten. Jeder von uns richtete seinen eigenen frugalen Festakt aus.
    Plötzlich, vor dem Hintergrund aller erneut möglich gewordenen Möglichkeiten, waren wir wieder scharf geschnittene Figuren. Kein Materialaustausch, keine Transformation, die Substanz war unverändert. Nachdem wir uns gerade noch im Gedanken der Auflösung gewiegt, das Leben nur mehr in homöopathischen Dosen an uns herangelassen hatten. Alt und unnütz waren uns unsere Umrisse vorgekommen, der Bereitstellungsaufwand schien uns unangemessen hoch, das Abschaffen der Errichtungsmühsal der täglichen Kontur versprach eine ungeheuere Erleichterung. Befristet hatten wir uns schon von uns befreit. War da nicht sogar die Idee aufgekeimt, das Wertvollste überhaupt, das Gedächtnis, zu verlieren? Kein Äußeres, keine Maske, kein Charakter und auch kein Inneres mehr zu sein?

    Es kam eigentlich nur eine Möglichkeit in Frage, wie du dir die exotische Krankheit zugezogen haben konntest. Kurz nach unserer Hochzeit hatte ich einen geschäftlichen Termin in San

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